Die neue Phase der Kämpfe in der Ukraine hat mich vor Unbehagen erschaudern lassen. Die Intensivierung und die Ausbreitung des Konflikts bergen die Gefahr eines beängstigenden Ausmasses an Tod und Zerstörung, wenn man berücksichtigt, was für riesige militärische Kapazitäten hier aufgefahren wurden.
Schon jetzt sehen wir die unmittelbaren Folgen für die Zivilbevölkerung: Die neueste Intensivierung hat noch mehr Menschen in die Flucht getrieben. Die Bewohnerinnen und Bewohner im Donbas und anderswo haben bereits acht Jahre des Konflikts durchlebt. Ich fürchte, es wird jetzt zu noch mehr Leid kommen, möglicherweise mit massiven Opferzahlen und einer grossflächigen Zerstörung ziviler Objekte wie Wasser- und Elektrizitätswerke. Und damit einhergehend Massenvertreibungen, Traumata, Trennungen von Familien und Vermisste.
Nach langjähriger Erfahrung des IKRK können Fehlberechnungen, mangelndes Verständnis und falsche Annahmen bei der Beurteilung der möglichen Auswirkungen umfassender Kampfhandlungen auf die Zivilbevölkerung schreckliche Folgen nach sich ziehen.
Wir fordern alle an den Kampfhandlungen Beteiligten auf, die folgenden Punkte zu berücksichtigen:
- Die am internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine beteiligten Parteien müssen das humanitäre Völkerrecht, einschliesslich der vier Genfer Abkommen von 1949 und des ersten Zusatzprotokolls von 1977, einhalten und den Schutz der Zivilbevölkerung und der Gefangenen sicherstellen. Sie dürfen keine Angriffe verüben, welche die Bestimmungen für die Kriegsführung verletzen oder verbotene Kampfmittel und -methoden anwenden. In besiedelten Gebieten sollte auf den Einsatz von Waffen, die grossflächige Zerstörung anrichten, verzichtet werden.
- Angriffe dürfen nicht gegen zivile Objekte gerichtet sein. Grundlegende Infrastrukturen, inklusive Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, die beispielsweise Unterkünfte von Zivilpersonen, Schulen und medizinische Einrichtungen mit lebenswichtigem Wasser und Strom versorgen, müssen verschont werden. Auch Cyberangriffe und Angriffe, die mittels neuer Technologien verübt werden, müssen das humanitäre Völkerrecht einhalten.
- Ein geschützter Raum für neutrale, unparteiische und unabhängige humanitäre Hilfe muss gewahrt werden, damit Hilfeleistende wie das Ukrainische Rote Kreuz, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und die breitere Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung weiterhin Zugang zur Zivilbevölkerung erhalten.
Die Priorität des IKRK ist es, den Notleidenden zu helfen. Diese Woche brachten wir 3 000 Liter Trinkwasser ins Spital von Dokutschajewsk und 7 000 Liter in die Gemeinde Donezk. Jüngst besuchten wir mehrere Haftanstalten, um einen Beitrag zu besseren Hygienebedingungen und einer verbesserten Ernährung zu leisten. Sofern es die Sicherheitslage zulässt, werden unsere derzeit in der Ukraine tätigen Teams ihre Arbeit fortsetzen und weiterhin lebenswichtige Infrastruktur reparieren, Gesundheitseinrichtungen mit Medikamenten und Ausrüstung versorgen und Familien mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln unterstützen. Zusätzlich werden wir unseren bilateralen und vertraulichen Dialog mit den Konfliktparteien fortführen, um die von den Kampfhandlungen betroffenen Menschen zu schützen.
Wir rufen alle Staaten auf, alles in ihrer Macht und ihrem Einfluss Stehende zu tun, um zu verhindern, dass der Konflikt eskaliert, denn die Kosten und die Folgen für die Zivilbevölkerung übersteigen die Kapazitäten, die Menschen zu schützen und ihnen zu helfen.
Das IKRK hat in den letzten Jahren häufig mitansehen müssen, wie Konflikte ausbrachen und eskalierten. Doch nur wenige dieser Konflikte enden, und jedes Mal ist es die Zivilbevölkerung, die unter den Folgen zu leiden hat.
Hinweis für Redaktoren:
Ein Video-Statement von Peter Maurer ist in unserem Newsroom verfügbar.
Das IKRK wurde 1863 gegründet und ist auf der ganzen Welt tätig. Es unterstützt Menschen, die von Konflikt und bewaffneter Gewalt betroffen sind und setzt sich für die Gesetze zum Schutz von Kriegsopfern ein. Als neutrale, unabhängige und unparteiische Organisation basiert sein Auftrag auf den Genfer Abkommen von 1949. Das IKRK hat seinen Sitz in Genf, Schweiz, und ist in mehr als 100 Ländern tätig.
Weitere Informationen:
Florian Seriex, IKRK, Genf (Englisch, Französisch), +41 79 574 06 36 fseriex@icrc.org
Daisy Baldwin, IKRK, London (Englisch) +44 7492 704145 dbaldwin@icrc.org