Aktuelle Herausforde-rungen für das humanitäre Völkerrecht: Besetzung
Im humanitären Völkerrecht (HVR) spricht man von Besetzung, wenn ein Staat eine nicht einvernehmliche effektive Kontrolle über ein Gebiet ausübt, über das er offiziell keine Hoheit hat. Artikel 42 der Haager Landkriegsordnung von 1907 definiert Besetzung wie folgt: „Ein Gebiet gilt als besetzt, wenn es tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres steht. Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann.“
Das sogenannte Besatzungsrecht regelt als Teilbereich des HVR die teilweise oder vollständige Besetzung eines Gebiets durch eine feindliche Armee. Die entsprechenden Bestimmungen finden sich in der Haager Landkriegsordnung von 1907, im Vierten Genfer Abkommen sowie im Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen.
Aus den Rechtsvorschriften geht hervor, dass die Besatzungsmacht keine Hoheit über das besetzte Gebiet erlangt und die Gesetze und Institutionen des von ihr besetzten Gebietes soweit möglich einhalten bzw. achten muss. Diesen Vorgaben liegt die Annahme zugrunde, dass die Besetzung nur vorübergehend ist und die Besatzungsmacht den Status quo ante, also den Zustand vor der Besetzung des Gebietes, aufrechterhalten muss.
Generell ist festzuhalten, dass das geltende Recht im Falle einer Besetzung ein Gleichgewicht zwischen den Sicherheitsbedürfnissen der Besatzungsmacht einerseits und den Interessen der verdrängten Macht und der lokalen Bevölkerung andererseits anstrebt. Damit sollen Schutz und Wohlergehen der Zivilbevölkerung, die in den besetzten Gebieten lebt, gewährleistet werden. Zu den Pflichten der Besatzungsmacht gehören unter anderem eine humane Behandlung der örtlichen Bevölkerung und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse, die Wahrung des Privatbesitzes, die Verwaltung öffentlicher Besitztümer, der Betrieb von Bildungseinrichtungen, die Sicherstellung des Bestehens und Betriebs medizinischer Dienste sowie das Ermöglichen von Hilfsaktionen und die Nichtbehinderung der Arbeit unparteiischer humanitärer Organisationen wie des IKRK. Im Gegenzug und damit sie diese wichtigen Verantwortlichkeiten erfüllen und gleichzeitig die eigene Sicherheit gewährleisten kann, erhält die Besatzungsmacht umfassende Rechte und Befugnisse, die falls nötig auch einschränkende Massnahmen für die lokale Bevölkerung umfassen können.