Erklärung

Mirjana Spoljaric – 34. Internationale Konferenz des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds – Eröffnungsrede

28. Oktober 2024
ICRC Emblem

Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Kolleginnen und Kollegen

Was für eine erschreckende Zahl: 120.

Aktuell toben über 120 bewaffnete Konflikte weltweit. In den Nachrichten wird nur über einige wenige berichtet, während Millionen Menschen unter Kriegen leiden, die es kaum in die Schlagzeilen schaffen.

Im Angesicht dieser überwältigenden Zahlen dürfen wir unsere Standards nicht senken, unsere Ziele nicht verringern oder die Massstäbe dessen, was als menschlich gilt, nicht lockern. Das humanitäre Völkerrecht existiert, um Leid in Konflikten zu verringern. Wenn es jetzt nicht angewendet wird, in diesem dringenden Augenblick, wann dann?

Artikel 1 der Genfer Abkommen besagt: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, das vorliegende Abkommen unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen.“ Sie sind die Hohen Vertragsparteien. Es reicht nicht, Verstösse aus der Ferne zu verurteilen. Die Vertragsstaaten müssen alle in ihrer Macht stehenden Mittel einsetzen, um Verstösse zu verhindern bzw. zu beenden, die zu menschlichen Tragödien führen.

Die fünf Resolutionen der diesjährigen Internationalen Konferenz sprechen jeweils einen Bereich humanitärer Einsätze an. Vor dem Hintergrund der anhaltenden bewaffneten Konflikte überall auf der Welt ist dabei die Resolution zur Schaffung einer universellen Einhaltung des humanitären Völkerrechts besonders wichtig. Mit dieser werden die Staaten aufgerufen, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu stärken und humanitäre Grundsätze zu wahren.

Die Genfer Abkommen übertragen dem IKRK das einzigartige Mandat, sich als neutrale und unparteiische humanitäre Organisation für den Schutz und die Unterstützung von Zivilisten und Kriegsgefangenen einzusetzen und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten zu fördern. Diese Arbeit ist entscheidend für die Wahrung der Menschenwürde – sei es bei der Versorgung von Verwundeten oder bei der unmittelbaren Meldung von Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht an die betroffenen Parteien.

Damit unser Handeln seine Wirkung entfalten kann, müssen wir uns an die Grundsätze der Neutralität und Unabhängigkeit halten. Vertraulichkeit ermöglicht unsere Neutralität. Zugang zu den Menschen, die am meisten auf unsere Hilfe angewiesen sind, ist unsere vordringlichste Priorität. Neutralität hat über alle Konflikte hinweg Bestand. Unabhängig von der Situation, der Region oder den Beteiligten ergreift das IKRK für keine Seite Partei. Wir setzen uns für die Betroffenen von Krieg und Konflikten ein.

Die Nationalen Gesellschaften sind die wesentlichen Förderer des humanitären Völkerrechts. Sie sind tief in den Gemeinschaften vor Ort verwurzelt und ihre Arbeit zur Unterstützung von Regierungen im humanitären Bereich ist entscheidend dafür, diesen zu helfen, ihren Verpflichtungen nachzukommen und die humanitären Grundsätze, die unparteiische und wirkungsvolle humanitäre Einsätze ermöglichen, zu schützen.

Der Kern des humanitären Völkerrechts bleibt bestehen, während es sich mit dem Aufkommen neuer Technologien und Methoden der Kriegsführung anpasst. Es ist flexibel genug, sich diesen Veränderungen zu stellen, ohne seinen Kern zu kompromittieren. Das humanitäre Völkerrecht ist nicht statisch; es hat sich als Reaktion auf technischen Fortschritt und neue Waffensysteme immer weiterentwickelt.

Jede Resolution, jede Entscheidung und jede Verpflichtung, die hier getroffen wird, gilt denjenigen, die unter lang anhaltenden Konflikten, Katastrophen und anderen Notsituationen leiden. Unsere Arbeit unterstreicht aufs Neue die Notwendigkeit, Menschlichkeit jederzeit Vorrang einzuräumen, und betont einen wesentlichen Grundsatz: Universalität. Das universelle Leid erfordert eine universelle Antwort.

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen 
Diese Konferenz ist die wichtigste internationale Plattform für einen unpolitischen Raum zur Unterstützung von Menschen in Not. Ich erwarte von uns allen, diesen Raum zu wahren und mit den Nationalen Gesellschaften, der Föderation und dem IKRK zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass der Geist des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds obsiegt und die Welt durch unsichere Zeiten lenkt. Schützen wir, wofür unsere Bewegung steht: Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Und schützen wir, was uns eint: Menschlichkeit.

Ich sage es nochmal: Jetzt ist nicht die Zeit, Standards, Ziele oder Massstäbe zu senken. Jetzt ist die Zeit, das humanitäre Völkerrecht anzuwenden und Menschlichkeit walten zu lassen.

Millionen Menschen, die unter Konflikten leiden, verlassen sich darauf.