Exzellenzen, meine Damen und Herren
Syrien erlebt einen historischen Moment. Frieden ist möglich.
Frieden ermöglicht eine stabile, wirtschaftlich gangbare und angstfreie Zukunft für alle Syrerinnen und Syrer.
Doch während der jüngsten Welle der Gewalt entlang der Küste haben wir gesehen, wie fragil der Weg Syriens zum Frieden ist. Die Zivilbevölkerung musste ihr Zuhause verlassen, die Spitäler waren überlastet durch den Andrang an Verletzten und die vielen Toten, und Familien suchten verzweifelt nach ihren Angehörigen.
Wir haben ein gemeinsames Interesse daran und eine geteilte Verantwortung, Syrien zu helfen, den Weg aus dem zerstörerischen Abgrund des Krieges herauszufinden. Das ist erreichbar, aber es erfordert ein erneuertes Engagement durch die syrische Führung zur Einhaltung des Völkerrechts, ergänzt um eine langfristige Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.
Die letzten 14 Jahre des Konflikts in Syrien sind eine eindrückliche Mahnung daran, welch verheerende Folgen Kriege haben, die ohne Regeln und ohne Grenzen geführt werden. Städte liegen in Trümmern, grundlegende Infrastruktur ist zusammengebrochen, und zahlreiche Menschenleben wurden für immer beeinträchtigt.
Die Angst und die Spaltung der syrischen Gesellschaft in der Folge sind nicht leicht zu beseitigen. Dennoch bin ich überzeugt davon, dass die Einhaltung des humanitären Völkerrechts grundlegend ist, um das Fundament für den Frieden zu schaffen.
Werden die vereinbarten internationalen Normen und Grundsätze eingehalten, so stellen sie sicher, dass alle Zivilpersonen – unabhängig davon, wo sie geboren wurden oder auf welcher Seite der Front sie leben – den gleichen Anspruch auf rechtmässigen Schutz haben.
Das bedeutet, dass die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur, auf die sie angewiesen ist, etwa der Tischrin-Damm oder die Wasserpumpstation Alouk, geschützt und erhalten werden müssen. Die humanitäre Hilfe muss zu den Menschen in Not gelangen. Die Gefangenen müssen mit Würde behandelt werden.
Die Aufrechterhaltung dieser Grundsätze hält Wege zu Frieden und Versöhnung offen. Wer sie missachtet, nährt weiteres Chaos und mehr Spaltung.
Die Aufgabe der Menschlichkeit im Krieg hat Folgen über Generationen von Syrerinnen und Syrern hinweg. Die Familien der Vermissten werden weiterhin mit einem ungelösten Trauma leben müssen, wenn wir nicht gemeinsam daran arbeiten, ihnen Antworten zu geben.
Derzeit zählt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz rund 30 000 ungelöste Vermisstenfälle in Syrien. Mehr als 2000 davon sind Personen, die zum Zeitpunkt ihres Verschwindens noch keine 16 Jahre alt waren. Wir wissen, dass die tatsächliche Zahl noch viel höher ist.
Nun gilt es, aus der Vergangenheit unverzüglich Lehren zu ziehen. Ich habe Syrien Anfang Jahr besucht und mich mit Familien getroffen, deren Angehörige jahrelang inhaftiert waren und die jetzt als vermisst gelten. Das Leiden so vieler Menschen hätte verhindert werden können, wenn das IKRK die Erlaubnis erhalten hätte, alle Gefangenen zu besuchen, ihre Haftbedingungen zu überwachen und den lebenswichtigen Kontakt zwischen den Insassen und ihren Familien aufrechtzuerhalten.
Seit Dezember rufen wir zur Erhaltung der Grabstätten und der amtlichen Urkunden auf und arbeiten mit Forensikfachleuten, um zu helfen, Verstorbene zu identifizieren, darunter auch ehemalige Gefangene des Saidnaja-Gefängnisses.
Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist riesig, und sie wird über Jahre hinweg bedeutende lokale, nationale und internationale Ressourcen erfordern. Wir müssen unser Engagement für die Familien entschlossen aufrechterhalten. Die Antworten, nach denen sie suchen, sind entscheidend für die Heilung des Landes.
Exzellenzen
Es wäre ein Fehler – ein grosser Fehler –, jetzt Ressourcen aus Syrien abzuziehen.
Von Aleppo über al-Hol und Damaskus bis nach Idlib arbeiten die Teams des IKRK im ganzen Land Hand in Hand mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond. Wir sehen jeden Tag, was auf dem Spiel steht, sollte die internationale Gemeinschaft Syrien in diesem entscheidenden Moment im Stich lassen.
Die humanitäre Hilfe bleibt ein Rettungsanker, auf den Millionen Syrerinnen und Syrer angewiesen sind. Eine Beendigung dieser Hilfe würde ihr Leid noch verstärken und die Erholung des Landes hinauszögern.
Ausserdem müssen wir den syrischen Gemeinschaften beim Wiederaufbau helfen. Durch die Reparatur der Infrastruktur, die Wiederherstellung grundlegender Dienste und die Räumung nicht explodierter Kampfmittelrückstände können wir sicherstellen, dass die Menschen unter sicheren und würdevollen Bedingungen vor Ort bleiben oder zurückkehren können, wenn sie dies aus freien Stücken wünschen.
Das bedeutet, dass die Staaten ihre Sanktionspolitik und die Restriktionsmassnahmen regelmässig überprüfen müssen, um die humanitäre Hilfe und die Bereitstellung lebenswichtiger Dienste weiter zu erleichtern.
Die Reduzierung der Gelder für die humanitäre Hilfe hat zur Folge, dass die Hilfswerke zunehmend mit unmöglichen Entscheidungen konfrontiert sein werden. Wenn die Staaten die Mittel kürzen, dann müssen sie mehr in Frieden investieren.
Vielen Dank.