Berg-Karabach-Konflikt: Ein gemeinsamer Nenner im Sinne der Verstorbenen
„Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich neidisch auf die Eltern bin, die die Gräber ihrer Söhne besuchen? Ich frage mich immer wieder: Hab ich nicht einmal darauf das Recht?"
Aschots* Sohn kämpfte während der Eskalation des Berg-Karabach-Konflikts im letzten Jahr. Er ist vermutlich gestorben, aber seine Leiche wurde noch nicht überführt. „Ich kann nicht beschreiben, wie schrecklich es ist, so zu leben", sagt Aschot. „Alles, was ich will, ist einen Ort, an dem ich mit meinem Sohn sprechen und um ihn trauern kann."
Der Verlust eines Kindes ist für alle Eltern extrem schmerzhaft. Aber einen Angehörigen zu verlieren, ohne zu wissen, wo und wie er gestorben ist, und ohne dass seine sterblichen Überreste überführt werden, macht den Schmerz noch umso grösser.
Genau das ist aber das Schicksal von Hunderten Familien in der Region.
„Mein Sohn war verlobt und die Hochzeit war für Oktober geplant. Dann wurde er als vermisst gemeldet", erklärt Ahmad*, ein anderer Vater, der nach Antworten sucht, nachdem sein Sohn im Rahmen der Kämpfe als vermisst gemeldet wurde. „Wir haben bis heute keine Nachricht. Wir haben nicht einmal seine sterblichen Überreste, die wir betrauern können. Seine Verlobte hat sich geschworen, sein Grab in ihrem Hochzeitskleid zu besuchen, wenn seine sterblichen Überreste jemals gefunden werden."
Sechs Wochen intensiver Kampfhandlungen seit Ende September haben zu umfassender Zerstörung geführt und die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung in der Region deutlich verschlechtert.
Seit dem Inkrafttreten des Waffenstillstands Mitte November schweigen die Waffen.
Viele verbinden das IKRK mit der Bereitstellung von humanitärer Hilfe für von Konflikten betroffene Menschen. Die Arbeit der Organisation für die Schaffung von Respekt für die Verstorbenen ist zwar weniger bekannt, aber genauso wichtig.
Im Zentrum dieser Arbeit stehen Zusammenarbeit und Kooperation. Einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist die einzige Art, wie Familien die so dringend benötigten Antworten erhalten können.
Bergung und Identifizierung der Verstorbenen
Das humanitäre Völkerrecht verlangt, dass die sterblichen Überreste der im Rahmen bewaffneter Konflikte verstorbenen Personen mit Würde und Respekt behandelt werden.
Das IKRK fördert weltweit den würdevollen Umgang mit den Verstorbenen, stärkt die lokalen forensischen Kenntnisse und arbeitet als neutraler Vermittler, um die Rückführung sterblicher Überreste an die Familien entlang der Frontlinien zu erleichtern.
„Nicht zu wissen, was mit einem Angehörigen passiert ist und wo er sich aufhält, ist zutiefst traumatisierend. Viele Familien glauben erst dann, dass ihre Angehörigen tatsächlich gestorben sind, wenn sie ihre sterblichen Überreste in Empfang nehmen. Es handelt sich um einen wichtigen Schritt bei der Trauerarbeit", so Jane Taylor, regionale Forensikerin des IKRK für Eurasien. „Die Bergung sterblicher Überreste, die Identifizierung der Opfer und ihre Rückführung ist ein äusserst komplexer und zeitintensiver Prozess. Es herrscht extrem viel Druck und es gibt keinen Platz für Fehler."
Der Prozess beginnt mit dem Ausbruch der Kampfhandlungen. Die Teams des IKRK stellen sicher, dass die Konfliktparteien ihre Verpflichtungen gegenüber den Toten verstehen, und ermuntern sie zur Zusammenarbeit, um die Bergung und Identifizierung der Verstorbenen zu erleichtern.
In einer Konfliktzone, in der die Kontrolle über bestimmte Gebiete wechselt, die Landschaft von Landminen und Munition übersät ist und die Emotionen hochkochen, ist dies leichter gesagt als getan.
Die eigentliche Aufgabe der Bergung sterblicher Überreste wird von den zuständigen Behörden übernommen. Das IKRK bemüht sich darum, diese Aufgabe als neutraler Vermittler zu erleichtern, damit alles so reibungslos wie möglich durchgeführt werden kann.
Im Zusammenhang mit der Eskalation des Berg-Karabach-Konflikts war das IKRK bis heute an über 170 Bergungen beteiligt. Seit dem Waffenstillstand wurden gemäss den Behörden über 1 600 Leichen geborgen.
Bei der Bergung der Verstorbenen von den Gefechtsfeldern sind alle Informationen entscheidend, um die Chancen auf Identifizierung der sterblichen Überreste zu verbessern. Der GPS-Standort der sterblichen Überreste sollte aufgezeichnet werden, damit er von den Behörden mit den militärischen Daten abgeglichen werden kann.
Die sterblichen Überreste sollten zusammen mit der Kleidung und anderen persönlichen Gegenständen in individuellen Leichensäcken verwahrt werden, um gegebenenfalls bei der Identifizierung zu helfen.
„Man kann die Bedeutung der persönlichen Gegenstände für die Familien gar nicht hoch genug einschätzen", sagt Taylor.
Gegenstände der Angehörigen wie eine Uhr können starke Gefühle bei den Familien auslösen und ihnen bei der Verarbeitung ihres Verlusts helfen.
Die Familien stehen im Zentrum des Prozesses. Zu Beginn stellen sie persönliche Informationen über ihre vermissten Angehörigen bereit. Später werden sie gegebenenfalls aufgefordert, eine DNA-Probe abzugeben.
Aber dabei wird nicht einfach nur eine Liste abgearbeitet. Die Gespräche mit den Familien werden von geschultem Personal durchgeführt, um sie so gut wie möglich zu beruhigen und zu unterstützen.
Die religiösen Überzeugungen der Familien werden ebenfalls berücksichtigt, da in verschiedenen Glaubensrichtungen unterschiedliche kulturelle Praktiken im Umgang mit den Verstorbenen bestehen.
Alle Hinweise aus der Bergungsphase werden zusammen mit den bei der Autopsie erhobenen Informationen (darunter gegebenenfalls ein DNA-Profil) verwendet, um eine potenzielle Identifizierung zu ermöglichen.
„Eine visuelle Identifizierung ist niemals ausreichend, da das physische Erscheinungsbild sich nach dem Tod verändert, und es eine traumatische Erfahrung für all diejenigen sein kann, die eine Leiche identifizieren müssen", erklärt Taylor.
Im Fall einer Fragmentierung bzw. Vermischung der sterblichen Überreste mit anderen Verstorbenen ist die Identifizierung ungleich schwieriger und bedarf gegebenenfalls besonderer DNA-, Zahn- oder anthropologischer Untersuchungen. Dies wird im Normalfall von den zuständigen Behörden durchgeführt. Fehlt die entsprechende Expertise, kann das IKRK das Verfahren mit seiner eigenen Erfahrung unterstützen.
IKRK-Genetiker des in Tiflis basierten forensischen Teams unterstützen derzeit den Kompetenzaufbau in der Region.
„Unser letztliches Ziel ist die Unterstützung bei der Identifizierung sterblicher Überreste. Für alle forensischen Experten –sei es vom IKRK oder nicht – ist es eine persönliche Niederlage, wenn wir es nicht schaffen", so Taylor. „Aber man muss akzeptieren, dass es Situationen gibt, in denen die Leichen vermisster Personen nie gefunden bzw. die sterblichen Überreste nicht identifiziert werden. Das ist unglaublich traurig."
Diese Entwicklung ist für die Region nichts Neues. Das IKRK verzeichnet aus dem Berg-Karabach-Konflikt der frühen 1990er-Jahre rund 4 500 vermisste Personen. Trotz der verstrichenen Zeit setzt sich das IKRK weiterhin dafür ein, zusammen mit den Behörden das Schicksal dieser vermissten Personen zu klären.
Landminen und Zivilcourage
Die Gegenden, in denen im vergangenen Jahr umfassend gekämpft wurde, sind mit Landminen und explosiven Kampfmittelrückständen übersät.
Die Berücksichtigung von Sicherheitsvorschriften bei der Durchführung von Bergungen ist daher entscheidend.
„Antipersonenminen, geladene Waffen, Granaten, tragbare Panzerabwehrwaffen, Mörserbomben, Panzerabwehrwaffen, Langstreckenraketen ... die Verseuchung mit Waffen ist überall", so Chris Poole, ein Waffenexperte des IKRK.
„Natürlich werden die sterblichen Überreste dort geborgen, wo die Kampfhandlungen stattgefunden haben, deshalb haben wir es mit einem wirklich gefährlichen Umfeld zu tun. Zu Beginn der Bergungsarbeiten gab es viele Spannungen, nicht nur wegen der Verseuchung durch Waffen, sondern auch, weil Personen gegnerischer Kräfte zusammenarbeiten mussten.
Aber es gab eine ehrliche Einsicht, dass diese Arbeit erledigt werden muss. Alle Beteiligten zeigten wirklich viel Zivilcourage."
Die Strassen und Wege mussten von den Expertenteams geräumt werden, bevor die Bergungsarbeiten durchgeführt werden konnten. Zahlreiche tragische Zwischenfälle dienen als Erinnerung an die bestehenden Gefahren.
In den Bergregionen im Norden stellten Temperaturen rund um den Gefrierpunkt und Schnee ein weiteres Problem dar.
„Die Strassen waren gerade noch befahrbar", sagt Poole, „aber die Fahrten waren sehr lang, langsam und heimtückisch. „An einigen Orten waren die sterblichen Überreste unter einer dichten Schneedecke vergraben, was eine Bergung schwierig bis unmöglich machte."
Ein gemeinsamer Nenner
Der Waffenstillstand ist vor nunmehr fünf Monaten in Kraft getreten. Hunderte Personen gelten weiterhin als vermisst und die humanitären Bedürfnisse in der Region sind enorm.
Die Suche nach diesen Vermissten, aber auch die Identifizierung der sterblichen Überreste in den Leichenschauhäusern wird fortgesetzt.
„Wir haben zusammen mit den Behörden alle erreichbaren Gegenden durchkämmt", so Martin Schüepp, IKRK-Regionaldirektor für Eurasien. „Einige Orte sind während der Wintermonate nicht zugänglich, deshalb haben wir im Frühjahr hoffentlich mehr Glück.
Wir machen gemeinsam weiter, bis wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, aber nach so vielen Monaten wird es natürlich extrem schwierig.
„Was mich bei meinem letzten Besuch besonders beeindruckt hat, war, wie Armenier und Aserbaidschaner zusammen nach ihren gefallenen Kameraden suchten", so Schüepp.
„Man konnte sehen, wie emotional dies für die Soldaten war, aber sie haben sich gegenseitig unterstützt. Das war ziemlich einzigartig und etwas, das wir selten beobachten. Es zeigt, dass bei humanitären Angelegenheiten die Gegner selbst in Kriegszeiten einen gemeinsamen Nenner finden können."
*Name geändert