Serhiivka, Ukraine. Photo: Caitlin KELLY/IKRK

Stimmen aus der Ukraine: „Unsere Wohnungen sind zerstört und medizinische Hilfe ist nicht in Sicht.“

In den vergangenen sechs Monaten haben in der Ukraine Tausende von Menschen Familienangehörige verloren, mussten aus ihren Häusern fliehen oder haben dringende medizinische Hilfe benötigt. Einige der Menschen, die wir getroffen haben, beschreiben, was sie erlebt haben. Alle Fotos von Caitlin Kelly/IKRK
Article 16. September 2022 Ukraine

Vera

Caitlin KELLY/IKRK

Die Strasse nach Mykolaijw, eine zwei Stunden von Odessa entfernt gelegene ukrainische Stadt, ist gespenstisch leer. Die Sirenen hallen zwischen den leeren Gebäuden, in denen zum Teil grosse Einschlaglöcher klaffen.

Aus der Ferne ertönen Explosionen. Menschen wandern mit leeren Plastikbehältern durch die Stadt auf der Suche nach Trinkwasser. Fliessendes Trinkwasser gibt es in der Stadt seit Monaten nicht mehr.

Vera humpelt ins Freie, um uns in einem schattigen Garten zu treffen. Im Hintergrund sind von der nahe gelegenen Brücke Verkehrsgeräusche zu vernehmen – es kracht und grollt, als wäre es Geschützfeuer. Sie wohnt bei ihrer Schwiegertochter. In den vergangenen Tagen spürten wir bei Familienzusammenkünften oft eine Mischung aus Kraft, Sicherheit und Liebe. Mit durchdringendem Blick erzählt sie ihre Geschichte.

„Niemand war da. Alle waren weggegangen", so beschreibt sie ihr in der Nähe gelegenes Dorf.

Sie sammelte mit drei anderen „Babuschkas" Pilze, als sie beschossen wurden. Metallkugeln aus einer Artilleriegranate drangen in ihre Brust und in ihren Arm ein.

Nach einer notfallmässigen Operation erholt sie sich nun in Mykolaijw. Sie lacht, während sie mir zeigt, wie der Arzt die Kugeln mithilfe eines Magnets in ihrer Brust fand. Ihre Fähigkeit, das Absurde mit Humor zu nehmen, bringt mich zum Lächeln.

Sie erklärt, dass sie sich in Mykolaijw trotz der ständigen Sirenen sicherer fühlt.

„Ich kann sonst nirgendwo hin. Ich kann nicht zurück, denn dort gibt es nichts mehr. Alles wurde dem Erdboden gleichgemacht."

Vera möchte sich mit dem Geld aus unserem Programm für Barzuschüsse etwas zum Anziehen kaufen. Sie wurde in aller Eile ins Spital gebracht und hat nichts dabei. Sie zeigt auf ihr einziges Paar Schuhe – Pantoffeln.

„Stellen Sie sich vor, wie es ist, Ihr ganzes Leben an einem Ort zu verbringen und dann weggehen zu müssen. Und Sie wissen nicht wohin. So fühle ich mich gerade." - Tatyana

 

Tatyana

Caitlin KELLY/IKRK

Tatiana wartete mit ihrer Familie am Bahnhof auf einen Zug, der sie in Sicherheit bringen sollte, als zwei Explosionen ertönten. Zunächst klang die Detonation wie ein Feuerwerk.

Ihre Enkelkinder schrien: „Oma, Mama bewegt ihren Kopf nicht mehr." Tatiana versuchte zu helfen, konnte sich aber nicht bewegen. Sie war am Bein getroffen worden.

Die Verletzungen ihrer Tochter waren jedoch schlimmer. Sie wurde an einer Arterie getroffen und starb auf der Stelle. In den letzten Augenblicken ihres Lebens hatte sie versucht, ihre beiden Kinder zu schützen.

Tatiana weint während des ganzen Gesprächs in einem Spital in Moldawien, will die Geschichte ihrer Familie aber unbedingt erzählen. Ihr Gesicht ist eingefallen und verrät tiefe Trauer. Ihr Blick ist leer und schweift häufig ab – das traumatische Erlebnis steht ihr ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig bindet sie eine Schnur um ihr Bein, ein Notbehelf, um ihre Wunden zu verbinden.

Tatiana wird nun operiert, damit sie wieder selbständig gehen kann. Danach will sie nach Deutschland reisen, um wieder bei ihren Enkelkindern zu sein.

„Meine Tochter kommt nicht zurück, doch ich muss weiterleben, denn ich habe vier Enkelkinder. Zwei von ihnen haben sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater verloren. Für sie muss ich weiterleben." - Tatyana

 

Ludmila

Caitlin KELLY/IKRK

Ludmila sitzt vor dem Spital in Moldawien, schiebt ihre Gesichtsmaske zur Seite und zündet eine Zigarette an, als ob sie sich daran festklammern wollte, um ihre strapazierten Nerven zu beruhigen.

Im Spital fährt sie mit ihrem Rollstuhl in den Gängen auf und ab und winkt jedes Mal, wenn sie vorbeikommt. Ludmila hat lange vor den jüngsten Kampfhandlungen ihr rechtes Bein verloren und nun ist auch das andere in Gefahr, weil sich ihre Gesundheit verschlechtert und sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hat.

Wir unterhalten uns in ihrem neuen Zuhause, dem Spitalzimmer. Nur wenige Stunden vor unserem Gespräch hat sie erfahren, dass ihre Strasse bei Kampfhandlungen getroffen wurde und sie scheint zu fürchten, dass dabei auch ihr Zuhause beschädigt wurde. Sie ist sichtbar aus der Fassung und starrt pausenlos auf ihr Telefon, um keine Nachricht zu verpassen. Ich nehme es als Zeichen, mich in aller Stille zu verabschieden.

 

Valentina

Caitlin KELLY/IKRK

Der Schaden an einem Wohnblock in Serhijiwka ist immens – die Hälfte davon ist einfach nicht mehr da. Am Boden zerstreut liegt Kinderspielzeug. Männer werfen die kaputten Überreste aus vergangenen Leben – Möbel, Mauerputz, alte Kleider – aus dem Gebäude heraus. Mitten in den Trümmern liegt ein Buch und wartet auf die Rückkehr seiner Leserin. Ein leuchtend roter Weihnachtsmann sitzt auf dem Schutthaufen. Ich frage mich, ob sein Besitzer das nächste Weihnachtsfest noch erleben wird.

Valentina treffe ich im örtlichen Sanatorium. Einige der Überlebenden aus dem Wohnblock haben in diesem Erholungsheim Zuflucht gefunden.

„Ich bin etwa um Mitternacht mit einer schlechten Vorahnung aufgewacht", erinnert sie sich.

Sie ist eine der ausdrucksstärksten Frauen, die ich getroffen habe; mit ausschweifenden Armbewegungen beschreibt sie die Nacht der Explosion. Ihre Erinnerung an das traumatische Erlebnis geht durch Mark und Bein. Sie spielt den Moment vor, als die Fenster barsten. Herumfliegende Glassplitter verletzten sie an Armen und Beinen. Dann wurde sie zu Fall gebracht.

„Ich erstarrte vor Angst, zitterte und schwitzte" - Valentina

Sie eilt zurück in ihr kleines Zimmer im Sanatorium und zeigt uns ein dreiteiliges Gemälde, das früher an ihrer Wand hing. Es ist einer der wenigen noch intakten Gegenstände in ihrem Besitz. Liebevoll erzählt sie von ihrer Nachbarin, einer engen Freundin, die gestorben ist. Mit Tränen in den Augen verleiht sie ihrer Hoffnung Ausdruck, eine Gedenkstätte für sie zu errichten.

Sie vertraut uns an, dass sie sich nach unserem Gespräch leichter fühlt. Die Welt soll ihre Geschichte erfahren.