Syrien erlebt gegenwärtig eine Übergangsperiode mit enormen Herausforderungen. In einigen Teilen des Landes dauern die Kämpfe an, und die Gefahr einer Konflikteskalation an Orten wie Idlib besteht weiter. Daher müssen erneute Anstrengungen unternommen werden, um noch mehr weitreichende Konfrontationen und das dadurch unweigerlich entstehende Leid zu verhindern.
Währenddessen versuchen viele Syrerinnen und Syrer, sich von diesem jahrelangen Konflikt zu erholen.
Für die humanitäre Arbeit ist ein Ansatz erforderlich, der sich an zwei Achsen ausrichtet.
Einerseits müssen wir in der Lage sein, in plötzlich auftretenden Notsituationen zu reagieren.
Andererseits müssen wir aber alles tun, was wir können, um den Menschen zu helfen, ihr Leben neu aufzubauen.
Die Situation ist hochkompliziert, die Herausforderungen unterscheiden sich je nach Zeitpunkt und Ort. Überall sehen wir Menschen in grosser Not.
Unmittelbare Bedürfnisse müssen gedeckt und umfassende, dringende Lösungen gefunden werden:
Nehmen wir zum Beispiel die entsetzlich komplizierte Situation im Nordosten des Landes, etwa im Flüchtlingslager al-Hol nahe der irakischen Grenze und in anderen Flüchtlingslagern. Zehntausende befinden sich dort in einer grossen Notlage, die Mehrheit davon Frauen und Kinder.
Einige haben Unaussprechliches erlebt und sowohl körperlich wie auch geistig stark gelitten. Sie benötigen Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, Nahrung, medizinische Versorgung und Sanitäranlagen, kurzum: das Grundlegende, was ein Mensch zum Leben braucht.
Gemeinsam mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond und anderen Partnern organisieren wir Mahlzeiten, Zelte und medizinische Versorgung. Wir führen Familien zusammen und informieren bei ausländischen Staatsangehörigen das Konsulat ihres Landes.
Das leidige und hochkomplexe Thema der sogenannten ausländischen Kämpferinnen und Kämpfer und ihrer Familien muss ebenfalls dringend angegangen werden. Das humanitäre Völkerrecht mit seinem ausgewogenen Ansatz, der Menschlichkeit und Sicherheit gleichermassen berücksichtigt, gibt Hinweise, wie dies geschehen könnte: Die Betroffenen müssen human und mit Würde behandelt, eine Stigmatisierung und eine erneute Gewaltspirale verhindert werden. Die Staaten dürfen sich ihrer Verantwortung nicht entziehen.
All jene, die in ihr Land zurück möchten, unabhängig davon, ob es sich um ein Nachbarland oder einen weiter entfernten Staat handelt, müssen auf sicherem Weg und in Würde zurückgebracht werden. Dies gilt selbstverständlich auch für irakische Staatsangehörige. Die Justiz muss überall arbeiten können und sich dabei an die grundlegenden Massnahmen für die Verfahrenssicherheit halten.
Wir müssen unser Augenmerk aber auch vermehrt auf die mittelfristigen Aussichten richten.
Die Voraussetzungen für eine umfassende Rückkehr sind zwar noch nicht gegeben, doch diejenigen, welche die Rückkehr wählen und auch diejenigen, die über die Jahre vor Ort geblieben sind und ihr Leben neu aufbauen möchten, sollten unterstützt werden.
Sie benötigen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, Sicherheit und die Wahrung ihrer Rechte. Ihre Häuser und ihre Landwirtschaftsflächen müssen von nicht explodierter Munition befreit werden. Sie müssen in der Lage sein, ein Einkommen zu erwirtschaften. Grundlegende Dienstleistungen für die Bevölkerung bereitzustellen, erfordert häufig eine gewisse Wiederinstandsetzung der Infrastruktur. Wasserleitungen müssen ersetzt werden, damit nicht jahrelang Wasser in Lastwagen herangeschafft werden muss. Operationssäle müssen wieder instandgesetzt werden, um Leben retten zu können.
Heute fragen wir uns, wie wir helfen können, Leben – und nicht Länder – wiederaufzubauen.
Unsere Priorität ist es, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen: humanitäre Hilfe dort zu leisten, wo sie am meisten benötigt wird, und das Leben so erträglich wie möglich zu gestalten. Unser Einsatzkriterium ist der Bedarf an humanitärer Hilfe – physischer und psychischer Hilfe, aber auch der Bedarf nach Schutz vor weiteren Gewaltausschreitungen.
Bei unseren Einsätzen stossen wir immer noch viel zu häufig an Grenzen; beim Zugang und bei der Schaffung eines sicheren Arbeitsumfeldes. Wir erleben zu viele Verletzungen des humanitären Völkerrechts und zu oft eine Instrumentalisierung der humanitären Arbeit. Die Syrerinnen und Syrer haben davon schon mehr als genug gesehen.
Das gesamte gesellschaftliche Gefüge muss wiederhergestellt werden, und die Menschen in Syrien müssen sich miteinander versöhnen, um zukünftige Konflikte abzuwenden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Rechte aller gewahrt werden: der Häftlinge, der zurückkehrenden Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, aller Syrerinnen und Syrer. Die Suche nach Vermissten und die Berücksichtigung der Bedürfnisse ihrer Familien sind ebenfalls entscheidende und dringende Anliegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Konflikt und Gewalt haben das Leben unzähliger Menschen in Syrien zerstört. Und die Gewalt ist noch nicht vorbei. Doch jetzt geht es darum, in die Zukunft zu blicken und zu berücksichtigen, welche Veränderungen wir vor Ort beobachten.
Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung und viele andere werden weiterhin ihren Beitrag leisten, wie wir dies seit Beginn des Konflikts getan haben. Ihre standhafte Unterstützung für neutrale und unparteiische humanitäre Arbeit ist entscheidender denn je.
Derzeit wächst eine neue Generation von Menschen heran. Was für ein Land diese jungen Menschen erben werden, hängt zu einem grossen Teil davon ab, wie wir heute handeln.