IKRK-Präsidentin erklärt an Konferenz zu Gaza: Zivilpersonen müssen geschützt und Geiseln unbeschadet freigelassen werden
Rede von IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric an der Internationalen humanitären Konferenz für die Zivilbevölkerung von Gaza in Paris, am 9. November 2023.
Das Leiden in Gaza und in Israel, das wir mitansehen müssen, ist nicht hinnehmbar: der tragische Verlust unzähliger Menschen und von so vielen Kindern. Die Zerstörung des Zuhauses von Menschen. Die tiefgreifenden und wiederholten Traumata. Die Geiseln, die noch immer gefangen gehalten werden, und ihre Familien, die um sie bangen.
Es ist nicht hinnehmbar, daran zu denken, dass diese katastrophale humanitäre Situation schon seit einem Monat anhält, und sie darf nicht noch länger dauern.
Das humanitäre Völkerrecht ist das umfassendste und pragmatischste Werkzeug, das wir haben, um den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen und den Weg hin zu einer Deeskalation zu ebnen.
Ich rufe die internationale Gemeinschaft dringend auf, für seine vollständige Umsetzung zu sorgen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Das Gebot der Stunde ist es, Leben zu retten und die Menschlichkeit zu wahren. Ein schneller und dauerhafter humanitärer Zugang und Hilfsgüter sind dringend nötig.
Kritische Dienstleistungen wie die Gesundheits-, Wasser- und Stromversorgung sowie die Kommunikation in Gaza müssen unverzüglich wiederhergestellt werden – dies ist eine lebenswichtige Priorität.
Das IKRK hat mehr als 100 Mitarbeitende in Gaza, die ihrer Arbeit inmitten der Gewalt weiterhin nachgehen. Wir haben lebensrettende Hilfsgüter für eine Lieferung vorbereitet und jüngst über den Grenzübergang von Rafah medizinische Güter und ein neues Team aus Expertinnen und Experten für chirurgische Eingriffe und Waffenräumung geschickt.
Doch die Vorräte gehen zu Ende, und unseren Chirurginnen und Chirurgen fehlt es bereits an Anästhetika und sogar an Gaze, um Opfer mit Verbrennungen zu behandeln.
Wir sind bereit, angesichts der immensen Bedürfnisse unseren Einsatz schnell auszuweiten, aber wir müssen in der Lage sein, regelmässig grosse Mengen an Vorräten einzuführen und wir brauchen den erforderlichen Zugang und Sicherheitsgarantien.
Das IKRK unterstützt mit seiner Arbeit die Menschen in Gaza, im Westjordanland und in Israel, unter anderem über seine Partner, den Palästinensischen Roten Halbmond, den Magen David Adom und andere Mitglieder der Bewegung wie der Ägyptische Rote Halbmond, im Rahmen ihrer grundlegenden Notfalldienste.
Die humanitären Mitarbeitenden in Gaza und in Israel zeigen unglaublichen Mut und grossen Einsatz.
Wie wir gehört haben, kamen tragischerweise Ärztinnen und Ärzte des Magen David Adom und des Palästinensischen Roten Halbmonds sowie Hilfswerksmitarbeitende der UN und anderer Organisationen ums Leben, während sie versuchten, anderen zu helfen. Diese Menschen möchte ich an dieser Stelle würdigen, und ich rufe dazu auf, dringend alle Zivilpersonen zu schützen, einschliesslich humanitäres und medizinisches Personal sowie Spitäler, im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht.
Unsere Rolle als neutraler Vermittler hat sich als nützlich erwiesen, um humanitäre Bedürfnisse zu decken. Durch seinen Dialog mit den Parteien konnte das IKRK in kritischen Momenten praktische Unterstützung anbieten.
Am Montag begleiteten wir Ambulanzfahrzeuge beim Transport von Patientinnen und Patienten, die dringende medizinische Versorgung benötigten, vom Schifa-Spital in Gaza-Stadt zum Grenzübergang von Rafah. Als neutraler, vertrauenswürdiger Akteur unterstützte das IKRK ausserdem zwei Aktionen zur Freilassung von Geiseln. Wir rufen weiterhin zur unverzüglichen Freilassung der verbleibenden Geiseln auf, und wir sind bereit, weitere Freilassungen zu unterstützen und auch die Geiseln zu besuchen.
Aber:
Die humanitäre Hilfe darf angesichts des Scheiterns, das Leben der Zivilbevölkerung zu schützen, nicht als Feigenblatt dienen.
Die Hauptverantwortung für den Schutz der Opfer des Krieges liegt bei den Konfliktparteien.
Dieser Schutz muss auf alle Zivilpersonen ausgeweitet werden, einschliesslich derjenigen, die sich noch in Gaza-Stadt aufhalten. Es ist kaum vorstellbar, dass sich keinerlei Zivilpersonen mehr im Norden aufhalten, und nicht alle Gebäude dürfen als militärische Ziele gesehen werden. Die Vorbereitungen für die Rückkehr der Hunderttausenden vertriebenen Familien in den Norden müssen dringend eingeleitet werden. Wenn das humanitäre Völkerrecht jetzt eingehalten wird, wird dies umfassende und positive Auswirkungen haben.
Im Westjordanland eskaliert die tödliche Gewalt gegen Zivilpersonen weiter: Diese Menschen dürfen nicht vergessen gehen; und für ihre Bedürfnisse und ihr Schutz muss etwas unternommen werden.
Ohne unverzügliche Zurückhaltung auf beiden Seiten steuern wir auf eine noch grössere humanitäre Katastrophe und einen nie endenden Teufelskreis der Gewalt zu.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Feindseligkeit so absolut ist, dass die andere Seite entmenschlicht wird.
Mit jedem Tag, der vergeht, schwindet die Möglichkeit weiter, einen Weg zurück zum Dialog und zu einer politischen Lösung zu finden.
Wir müssen versuchen, nicht nur das menschliche Leid zu reduzieren, sondern auch einen minimalen Raum zu bewahren, innerhalb dessen es möglich ist, sich auf etwas zu einigen, das nicht durch militärische Mittel, sondern durch politische Diskussionen erreicht wird.
Ich rufe die Staaten dringend auf, ihren Einfluss zu nutzen, um sicherzustellen, dass das humanitäre Völkerrecht vollständig eingehalten und umgesetzt wird.
Die Genfer Abkommen sind pragmatisch:
- Das Töten von Zivilpersonen und Misshandlungen sind verboten.
- Verwundete und Kranke müssen versorgt, geachtet und geschützt werden.
- Inhaftierte Personen müssen menschlich und mit Würde behandelt werden.
- Geiselnahmen sind verboten, und Geiseln sollten unverzüglich und unbeschadet freigelassen werden.
- Die zivile Infrastruktur, von der die Bevölkerung für ihr Leben abhängig ist – inklusive Stromnetze und Wasserversorgung – muss verschont werden.
- Ungeachtet einer militärischen Belagerung müssen die Parteien dafür sorgen, dass die Zivilbevölkerung Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen, einschliesslich medizinischer Versorgung, hat.
Wir stehen vor einem katastrophalen moralischen Scheitern – einem Scheitern, das die Welt nicht zulassen darf.
Ich rufe Sie dringend zu konkreten politischen Schritten auf, um einen dauerhaften humanitären Raum zu sichern, die besondere Rolle von neutralen Akteuren wie dem IKRK zu schützen, angemessene Mittel bereitzustellen und auf die praktische Umsetzung des humanitären Völkerrechts zu drängen.
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