Geltung des humanitären Völkerrechts für Atomkraftwerke im Rahmen von Konflikten
Wenn an gefährlichen Orten wie Atomkraftwerken gekämpft wird, steht für die Zivilbevölkerung heute und in Zukunft enorm viel auf dem Spiel. Aufgrund der potenziellen Gefahr, die von Schäden an bzw. Angriffen auf Atomkraftwerke und andere Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, ausgeht, stehen derartige Anlagen unter besonderem Schutz des humanitären Völkerrechts. Ein Überblick.
Ist das IKRK besorgt über die Kampfhandlungen rund um das ukrainische Atomkraftwerk in Saporischschja?
Ja. Anlagen wie das Atomkraftwerk Saporischschja enthalten radioaktives Material, das freigesetzt werden könnte, wenn verschiedene Elemente der Anlage zerstört, beschädigt oder ausser Betrieb gesetzt werden.
Ein Unfall in einem Atomkraftwerk könnte zu Strahlenbelastung (Gammastrahlung) und radioaktiver Kontamination (Einatmen von radioaktivem Material in der Luft) führen, die schwere kurz- und langfristig Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt verursachen könnten und die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht nicht zu kontrollieren sind. Über die radioaktive Verstrahlung und die daraus folgenden Krankheiten hinaus erstrecken sich durch ionisierende Strahlung verursachte genetische Veränderungen über mehrere Generationen. Radioaktives Material kann sich über weite Gebiete verteilen und eine zerstörerische Wirkung auf Ökosysteme, Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung entfalten – mit dem Effekt, dass weite Teile der Bevölkerung kurz- und langfristig dem Risiko von Krankheiten und Todesfällen ausgesetzt sind. Eine Dekontaminierung ist zeitaufwändig und mitunter gar unmöglich.
Die Gefahr des Austretens radioaktiver Strahlung infolge militärischer Aktivitäten rund um solche Anlagen ist sehr hoch, wenn man die Wahrscheinlichkeit von direkten oder zufälligen Schäden an einem Reaktor oder anderen wichtigen Elementen, die für einen sicheren Betrieb der Anlage erforderlich sind, sowie menschliche Fehler aufgrund des enormen Stresses, dem das Personal in einer solchen Situation in der Anlage ausgesetzt ist, bedenkt.
Sind Atomkraftwerke bei einem bewaffneten Konflikt geschützt?
Ja. Atomkraftwerke sind zivile Anlagen. Als solche sind sie gegen Angriffe und Vergeltungsmassnahmen geschützt und dürfen nicht ins Visier genommen werden. Im Zweifelsfall gilt eine solche Anlage als zivile Einrichtung.
Konfliktparteien müssen auch kontinuierlich darauf achten, bei militärischen Operationen die Zivilbevölkerung und zivile Objekte zu verschonen. Aufgrund der Gefahr des Austretens radioaktiver Strahlung und der gravierenden Folgen für die Zivilbevölkerung müssen die Konfliktparteien extreme Vorsicht walten lassen, wenn sie Truppenbewegungen, Manöver oder andere militärische Aktivitäten in der Umgebung von Atomkraftwerken durchführen.
Können Atomkraftwerke allein aus dem Grund angegriffen werden, dass sie von einer Konfliktpartei für militärische Zwecke genutzt werden?
Nein. Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten (wie z.B. Atomkraftwerke) stehen unter dem besonderen Schutz des humanitären Völkerrechts. Sie dürfen nicht allein auf der Grundlage dessen angegriffen werden, dass sie zu militärischen Zielen geworden wären, wenn ein solcher Angriff zur Freisetzung gefährlicher Kräfte und zu schweren Verlusten bei der Zivilbevölkerung führt. Unter bestimmten Umständen kann der Angriff auf ein Atomkraftwerk auch ein Kriegsverbrechen darstellen.
Wie sieht es mit militärischen Zielen rund um ein Atomkraftwerk aus?
Konfliktparteien müssen darauf achten, militärische Ziele wie Truppen, Waffen oder Militärfahrzeuge nicht in bzw. in der Nähe von Atomkraftwerken zu positionieren. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass sich ein militärisches Ziel (wie z.B. eine Brücke, die zu militärischen Zwecken verwendet wird) in der Nähe einer solchen Einrichtung befindet. Bei einem internationalen bewaffneten Konflikt gelten die Verbote bezüglich Angriffen und Vergeltungsmassnahmen im Zusammenhang mit Atomkraftwerken auch für solche militärischen Ziele in einem Atomkraftwerk bzw. in dessen Nähe, um das Austreten radioaktiver Strahlung infolge von zufälligen Schäden an der Anlage zu verhindern.
Gibt es irgendwelche Umstände, unter denen Atomkraftwerke bzw. militärische Ziele in deren Umgebung angegriffen werden könnten?
In einem internationalen bewaffneten Konflikt können Atomkraftwerke bzw. militärische Ziele in deren Umgebung nur unter besonderen und eng definierten Umständen ihren oben erläuterten Schutz verlieren. Selbst dann bedeutet dies aber nicht, dass ein Angriff auf solche Objekte rechtmässig ist.
Ein Atomkraftwerk oder ein militärisches Ziel in dessen Umgebung darf nur angegriffen werden, wenn dieses militärische Operationen regelmässig, in bedeutendem Umfang und auf direkte Art und Weise mit Strom versorgt und ein solcher Angriff die einzige Möglichkeit darstellt, eine solche Unterstützung zu beenden. Aber selbst wenn diese Objekte ihren besonderen Schutzstatus verlieren, gelten bei Angriffen weiterhin alle anderen Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung und der Umwelt. So müssen Konfliktparteien bei Angriffen auf solche Objekte vor allem die erheblichen Risiken für die Zivilbevölkerung berücksichtigen, wenn es um die Anwendung der Bestimmungen zu Verhältnismässigkeit und Vorsicht geht. Beide Konfliktparteien müssen alle praktischen Vorkehrungen treffen, um das Austreten radioaktiver Strahlung zu verhindern.
Ist eine Konfliktpartei, die ein Atomkraftwerk kontrolliert, befugt, dieses vor Angriffen zu verteidigen?
Konfliktparteien müssen darauf achten, keine militärischen Ziele in der Umgebung von Atomkraftwerken zu positionieren. Allerdings sind militärische Vorkehrungen, Truppen und Waffen zum alleinigen Zwecke der Verteidigung der Anlage vor Angriffen erlaubt, sofern sie nur für die erforderlichen Verteidigungsschläge als Reaktion auf Angriffe gegen die geschützte Einrichtung eingesetzt werden und deren Umfang entsprechend begrenzt ist.
Gibt es zusätzliche Massnahmen, die Konfliktparteien ergreifen können, um Atomkraftwerke zu schützen?
Das humanitäre Völkerrecht fordert die Konfliktparteien eindringlich auf, gegenseitige Vereinbarungen für einen zusätzlichen Schutz von Objekten, die gefährliche Kräfte (wie z.B. Atomkraftwerke) enthalten, zu treffen. Dazu gehört zum Beispiel eine Vereinbarung zur Einrichtung einer entmilitarisierten Zone, die auch gemäss HVR vorgesehen ist und die auch schon in Friedenszeiten bzw. nach Ausbruch der Kampfhandlungen eingerichtet werden kann.
Solche weitergehenden Vereinbarungen können auch auf andere Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, wie beispielsweise Chemiewerke oder Ölraffinerien, ausgeweitet werden.