Hungerkrise in Somalia: Dürre, Konflikt und der Kampf ums Überleben
Wiilo Maalim Nuuro sitzt mit ihrer Tochter Nafiso in den Armen auf deren Bett. Das zweijährige Mädchen leidet an schwerer Unterernährung und ist in Behandlung, um sein Leben zu retten.
Damit ist Nafiso bei Weitem nicht die Einzige. Die Intensivstation des wichtigsten Spitals in Baidoa im Süden Somalias ist voller Menschen – Ärzte- und Pflegepersonen, Patientinnen und Patienten.
Immer wieder hört man schrille Schreie; die Luft ist heiss und feucht. Dies ist kein Ort, an dem sich Eltern gerne aufhalten. Dennoch ist dieses Spital ihre letzte Hoffnung in der jüngsten Hungerkrise, die Somalia derzeit durchlebt.
Die Intensivstation nimmt nur Kinder unter fünf Jahren in besonders kritischem Zustand auf. Dieses Jahr hat die Zahl der Spitaleintritte im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen.
„Es gibt Kinder, die in den letzten Minuten ihres Lebens erst im Spital ankommen, wenn man leider gar nichts mehr tun kann", berichtet Ali Abshir Mursal, ein im Spital tätiger IKRK-Ernährungsberater.
„Es ist schrecklich. Manchmal hören wir von Müttern, die auf dem Weg ins Spital sind, deren Kinder dann aber unterwegs sterben."
Schwer unterernährte Kinder sind ausserdem anfälliger für zusätzliche medizinische Komplikationen, wie Lungenentzündung, akuter Durchfall, Atemwegsinfektionen, Blutarmut, Hautentzündungen und Masern.
Nafiso leidet an Kwashiorkor, einer Form der Unterernährung mit schwerem Eiweissmangel. Das medizinische Team verabreicht ihr nährstoffreiche Ersatzmilch, um ihren Zustand zu stabilisieren.
Ihre Mutter kann nur beten, dass ihr einziges Kind durchkommt.
Am einen Ende der Station befindet sich eine Tafel mit den Namen der Kinder und ihrer Mütter, daneben stehen die Fütterungszeiten. Jeden Morgen um 6 Uhr werden die Kinder gewogen, und ihre Vitalzeichen werden sorgfältig überwacht.
Im Hintergrund summen leise Sauerstoffgeräte, an denen diejenigen Kinder, die Hilfe beim Atmen benötigen, angeschlossen sind.
Einige Kinder sind zu schwach, um Nahrung zu sich nehmen zu können. Ihnen muss über eine Nasensonde Milchersatz zugeführt werden.
Auf der Station ist es drückend heiss. Infolge kurzer Regenschauer wimmelt es draussen nur so von Moskitos. Die Fenster bleiben deshalb geschlossen, im vergeblichen Versuch, die Stechmücken fern und die Kinder warm zu halten.
Die Intensivstation ist Teil einer sogenannten Stabilisierungsklinik. Letztere hat dieses Jahr einen drastischen Anstieg an Patientinnen und Patienten mit schwerer Unterernährung verzeichnet.
Von Januar bis Oktober wurden 2 395 Kinder eingeliefert – das ist fast dreimal so viel wie im gleichen Zeitraum 2021. Insgesamt 63 Kinder sind verstorben.
Das IKRK unterstützt eine zweite Stabilisierungsklinik in der Hafenstadt Kismaayo. Auch dort wurde dieses Jahr ein rasanter Anstieg der Fälle beobachtet.
Beide Einrichtungen werden vom IKRK mit medizinischer Ausrüstung und Nahrungsergänzungsmitteln versorgt. Die Organisation leistet zudem finanzielle Unterstützung für die Mitarbeitenden.
Wenn Konflikt und Klima aufeinandertreffen
Aufgrund der instabilen Sicherheitslage ist die Reise nach Baidoa aus den ländlichen Gegenden gefährlich und zeitaufwendig. Entlang des Weges müssen zahlreiche Checkpoints passiert werden. Die Regenfälle der letzten Wochen haben dazu geführt, dass das Gelände noch schwerer befahr- und begehbar ist.
„Die Menschen kommen von weit ausserhalb der Stadt, sie benötigen zum Teil 24 Stunden, bis sie im Spital sind", erklärt Mursal.
„Baidoa ist eine grosse Stadt, aber die Dürre und der Konflikt haben dazu geführt, dass zahlreiche Menschen auf der Suche nach Nahrung und medizinischer Versorgung hierherkommen. Dadurch ist die Lage überall angespannt."
In Somalia ist man sich Nahrungsmittelknappheit zwar gewohnt, doch die schwere Krise, die das Land dieses Jahr erlebt, ist das Ergebnis eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren.
Der Konflikt, der seit rund drei Jahrzehnten anhält, hat unzählige Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und den Zugang zu Agrarland, Weideland für das Vieh und zur Gesundheitsversorgung eingeschränkt.
Das wiederholte Ausbleiben des Regens hat eine schwere Dürre – die schlimmste seit Jahren – verursacht, mit zerstörerischen Folgen für die Ernten und das Vieh.
Die weltweite Inflation und der Mangel an Getreide infolge des Konflikts in der Ukraine haben ebenfalls eine Rolle gespielt. In der Folge all dieser Ereignisse sind heute über sieben Millionen Menschen dringend auf Nahrung und Wasser angewiesen.
Die Feindseligkeiten in dem ostafrikanischen Land verschärfen sich zunehmend. Von Januar bis Oktober verzeichnete das IKRK in vier von der Organisation unterstützten Spitälern insgesamt 57 Vorfälle mit einer grossen Anzahl Verletzten.
Dies entspricht einer Zunahme um fast 30 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Vorjahr.
Die Spitäler behandelten in dieser Zeit über 2 100 Patientinnen und Patienten mit Verletzungen, die auf den Konflikt zurückgehen – fast 200 mehr als im Jahr davor.
„Es ist sehr schwierig einzuschätzen, wie schwer die Situation an Orten ist, zu denen wir aufgrund der Unsicherheit keinen Zugang haben", erläutert Mursal.
„Wir können keine Schätzungen machen, es gibt überhaupt keine Daten."
Bis es nicht mehr geht
Die Abgabe von Bargeld an die Bevölkerung ist ein Weg, mit dem das IKRK versucht, den Menschen zu helfen, den Verlust ihr Existenzgrundlage oder die Nahrungsmittelknappheit zu überwinden. Ende August erhielten mehr als 150 000 Haushalte genügend Geld, um sich für einen Monat mit Nahrungsmitteln einzudecken.
Damit die Menschen angesichts der zunehmenden einschneidenden Klimaänderungen widerstandsfähiger werden, unterstützt das IKRK zudem landwirtschaftliche Genossenschaften, durch Schulung, dürreresistentes Saatgut und landwirtschaftliche Geräte.
Mohamed Abdille Abdi, IKRK-Experte für wirtschaftliche Sicherheit, ist Teil des Teams, das vor der Durchführung von Hilfseinsätzen eine Lagebeurteilung vornimmt.
Er erinnert sich, wie er bei einem solchen Augenschein vor Ort auf einen Haushalt traf, der nur aus Kindern bestand, wobei der Älteste gerade einmal 15 Jahre alt war.
Beide Eltern waren verstorben und die Kinder waren auf Hilfe aus der Dorfgemeinschaft angewiesen, um überleben zu können.
„Die Somalierinnen und Somalier haben ein Gesellschaftsgefüge, innerhalb dessen sich die Menschen in solchen Zeiten gegenseitig unterstützen", berichtet Abdi.
„Dieses Gefüge ist aber zunehmend geschwächt, weil jetzt alle an ihre Grenzen stossen."
Zurück in der Stabilisierungsklinik hat sich der Zustand von Nafiso nach mehr als zwei Wochen Behandlung verbessert.
Die Mutter und ihre Tochter werden bald zurückkehren können in ein behelfsmässiges Lager am Stadtrand, wo sie mit einer Vielzahl an Menschen leben, die durch den Konflikt und die Dürre vertrieben wurden.
Die Menschen hoffen nun darauf, dass sie durch die beginnende Regenzeit neue Zuversicht für die Zukunft schöpfen können.
Falls es denn auch wirklich regnet.