Haftanstalt in Oleniwka: Kriegsgefangene und die Rolle des IKRK

Haftanstalt in Oleniwka: Kriegsgefangene und die Rolle des IKRK

Die Berichte aus Oleniwka sind erschütternd. Wir sind in Gedanken bei den Familien und ihrem herzzerreissenden Schmerz darüber, dass möglicherweise einer ihrer Angehörigen bei diesem entsetzlichen und inakzeptablen Angriff getötet wurde. Das IKRK verurteilt diesen und alle anderen Angriffe auf Kriegsgefangene und andere geschützte Personen aufs Schärfste.
Article 03. August 2022 Ukraine Russland

Es sind viele Fragen eingegangen über die Rolle des IKRK im Rahmen des internationalen bewaffneten Konflikts in der Ukraine, seine Arbeit bei der Unterstützung von Kriegsgefangenen und die Bestimmungen der Genfer Abkommen zu den Rechten dieser Personen. Das IKRK hat nachfolgend einige Antworten auf diese Fragen zusammengefasst.

Was hat das IKRK seit dem Angriff in Oleniwka getan? War es vor Ort? Hat es die verwundeten Kriegsgefangenen besucht bzw. sich um die getöteten Gefangenen gekümmert?

Das IKRK hat am Freitag, 29. Juli von einem mutmasslichen Angriff auf die Haftanstalt in Oleniwka erfahren und direkt Zugang diesem Gefängnis und zu allen Einrichtungen, in denen die Opfer behandelt werden bzw. in welche die Leichen transportiert wurden, gefordert. Ausserdem wurde auch der Zugang zu anderen Einrichtungen, in welche weitere Kriegsgefangene möglicherweise transferiert wurden, beantragt. Das IKRK hat auch seine Unterstützung bei der Evakuierung der Verwundeten und Spenden von medizinischem Material, Schutzausrüstung und forensischer Ausrüstung angeboten.

Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat das IKRK weder Zugang zu den von diesem Angriff betroffenen Kriegsgefangenen noch Sicherheitsgarantien für die Durchführung von Besuchen erhalten. Das Angebot an Materialspenden bleibt weiterhin unbeantwortet.

Das IKRK wird im Rahmen seines humanitären Engagements und seines Auftrags gemäss den Genfer Abkommen weiterhin Zugang zu den in Oleniwka und an anderen Orten festgehaltenen Kriegsgefangenen fordern.

Ist das IKRK darauf vorbereitet, wenn ein Zugang gewährt werden sollte? Was würde das IKRK dort tun?

Das IKRK ist auf seinen Einsatz in Oleniwka vorbereitet. Es hat bereits medizinische und forensische Expertenteams vor Ort, die seit der Aufnahme der Aktivitäten des IKRK in Donezk 2014 in der Umgebung arbeiten. Das IKRK benötigt unmittelbaren Zugang zu den Kriegsgefangenen in der Haftanstalt von Oleniwka, unabhängig davon, wo sich diese derzeit befinden; ausserdem müssen die Konfliktparteien die notwendigen Sicherheitsgarantien abgeben, damit die IKRK-Teams die Einrichtungen besuchen können.

Neben der Versorgung der Verwundeten und dem Umgang mit sterblichen Überresten würde sich das IKRK auch mit Kriegsgefangenen treffen, um sie zu registrieren und vertraulich mit ihnen über die Bedingungen ihrer Inhaftierung und ihre Behandlung zu sprechen – Staaten sind gemäss dem humanitären Völkerrecht und dem dritten Genfer Abkommen rechtlich dazu verpflichtet, dem IKRK solche Treffen mit Kriegsgefangenen zu erlauben.

Das IKRK würde auch versuchen, sicherzustellen, dass die Kriegsgefangenen so oft wie nötig erneut besucht werden können, um festzustellen, ob ihre Behandlung gemäss den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts erfolgt. Im Rahmen dieser Besuche würde das IKRK sich auch darum bemühen, den Kontakt zwischen den Kriegsgefangenen und ihren Familien zu ermöglichen.

Hatte das IKRK schon früher Zugang zu den ukrainischen Kriegsgefangenen in Oleniwka? Und wenn ja, wann war das und was hat das IKRK bisher getan?

Das IKRK war im Mai zweimal dort. Beim ersten Mal ging es darum, die Bedürfnisse der Kriegsgefangenen in der Haftanstalt zu beurteilen. Beim zweiten Mal wurden Wassertanks vor der Einrichtung abgeladen. Das IKRK hatte keinen individuellen Zugang zu den Kriegsgefangenen (wie in den Bestimmungen zur Arbeit des IKRK in Haftanstalten festgehalten); dies ist weiterhin der Fall. Gemäss dem dritten Genfer Abkommen muss das IKRK im Rahmen internationaler bewaffneter Konflikte Zugang zu allen Kriegsgefangenen erhalten, unabhängig davon, wo diese festgehalten werden. Dem IKRK steht auch frei, über die Orte zu entscheiden, die es besuchen möchte. Seit Februar 2022 hatten die IKRK-Teams Zugang zu einigen Kriegsgefangenen, aber nicht zu allen.

Führt das IKRK öffentliche Untersuchungen zu Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht oder zu Kriegsverbrechen durch?

Öffentliche Untersuchungen können dazu beitragen, die Fakten zu einem Angriff zusammenzutragen und das Geschehen zu klären. Allerdings führt das IKRK keine Untersuchungen im Zusammenhang mit mutmasslichen Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht im Sinne einer öffentlichen Rechenschaftspflicht durch, da dies nicht die Aufgabe des IKRK ist. Das IKRK nimmt auch nicht an Gerichtsprozessen teil. Dies bedeutet, dass das IKRK weder als Zeuge auftritt, noch Informationen für Gerichtsverfahren an Justiz- bzw. Ermittlungsbehörden weitergibt – dieses Recht wurde gemäss dem humanitären Völkerrecht wiederholt bestätigt.

Das IKRK arbeitet aktiv an der Förderung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts durch die Konfliktparteien, indem es unter anderem bilaterale und vertrauliche Gespräche mit ihnen führt. Im Zusammenhang mit diesen Gesprächen dokumentiert das IKRK gegebenenfalls mutmassliche Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, damit entsprechende Bedenken zur Einhaltung der Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht direkt und vertraulich mit den Konfliktparteien besprochen werden können. So bemüht sich das IKRK darum, das Verhalten der Parteien in einem bewaffneten Konflikt dahingehend zu beeinflussen, dass Leid und der Verlust von Menschenleben verhindert werden. Letztlich ist es aber die Pflicht der Parteien eines bewaffneten Konflikts, das Leben, die Würde und die körperliche Unversehrtheit der in ihrer Gewalt befindlichen Personen, die durch das humanitäre Völkerrecht geschützt sind (einschliesslich Kriegsgefangenen), zu bewahren.

Hat das IKRK für die Sicherheit der Kriegsgefangenen aus dem Asow-Stahlwerk gesorgt? Ist das IKRK in der Lage, sicherzustellen, dass Konfliktparteien sich an die Genfer Abkommen halten?

In Zusammenarbeit mit den Konfliktparteien hat das IKRK als neutraler Vermittler die sichere Evakuierung der Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk ermöglicht. Da diese als Kriegsgefangene galten, hat das IKRK diese registriert. Dies erfolgte unter der Massgabe, dass das IKRK diese zu einem späteren Zeitpunkt in Übereinstimmung mit den einschlägigen Bestimmungen des humanitären Völkerrechts würde besuchen dürfen, um sich von ihrem Gesundheitszustand zu überzeugen und ihnen zu helfen, Kontakt mit ihren Familien zu halten.

Das IKRK konnte die Sicherheit der Kriegsgefangenen nicht gewährleisten, sobald sie in den Händen des Feindes waren, denn dazu ist es nicht befugt. Dies hat das IKRK den Parteien im Vorfeld klargemacht. Die Konfliktparteien sind dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass Kriegsgefangene gegen Gewalt, Einschüchterung, öffentliche Neugier und andere Auswirkungen von Kampfhandlungen geschützt sind. Es liegt allein in der Verantwortung der Konfliktparteien, den Schutz von Kriegsgefangenen sicherzustellen. Weitere Informationen über die Rechte von Kriegsgefangene sowie Regeln zu ihrer Behandlung und Freilassung gemäss dem dritten Genfer Abkommen erhalten Sie hier.

Während wir einige Kriegsgefangene besuchen konnten, haben wir wiederholt bestätigt, dass dem IKRK kein Zugang zu allen Kriegsgefangenen gewährt worden ist, darunter auch denjenigen in Oleniwka. Dem IKRK muss das Recht eingeräumt werden, Kriegsgefangene ein- oder mehrmals zu besuchen, vor allem diejenigen, zu denen es noch keinen Zugang hatte, damit es seinen humanitären Auftrag erfüllen kann. Letztlich hängt es von der Bereitschaft der Parteien ab, sich an die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts zu halten, ob das IKRK in der Lage ist, seinen Auftrag zu erfüllen.

Wie sieht die Rolle des IKRK zum Schutz und zur Unterstützung von Kriegsgefangenen gemäss den Genfer Abkommen aus?

Das dritte Genfer Abkommen gewährt dem IKRK das Recht, Kriegsgefangene zu besuchen, unabhängig davon, wo diese festgehalten werden. Dem IKRK muss auch freigestellt werden, über die Orte zu entscheiden, die es besuchen möchte. Dies bedeutet insbesondere, dass das IKRK das Recht hat, wiederholt und auf vertraulicher Ebene mit Kriegsgefangenen zu sprechen, um zu verstehen, wie sie behandelt werden. Ferner hat es das Recht, alle Einrichtungen zu besuchen, in denen Kriegsgefangene festgehalten werden, um festzustellen, ob diese den Standards gemäss dem humanitären Völkerrecht entsprechen. Mit diesen Gesprächen und Besuchen soll sichergestellt werden, dass die körperliche Unversehrtheit und die Würde der Kriegsgefangenen gewahrt werden und dass ihre Haftbedingungen rechtens sind und international anerkannten Standards entsprechen.

Darüber hinaus überträgt das dritte Genfer Abkommen dem Zentralen Suchdienst des IKRK ein spezifisches Mandat, und zwar die Erhebung und Zentralisierung aller Informationen über Kriegsgefangene (über offizielle und private Kanäle) zur Weiterleitung an die Konfliktparteien und die Familien der betroffenen Angehörigen. Mit diesem System soll sichergestellt werden, dass keine Kriegsgefangenen verschwinden, indem die Parteien, in deren Gewalt sich die Kriegsgefangenen befinden, rechenschaftspflichtig sind und Informationen an Familien weitergegeben werden können.

Familien von Kriegsgefangenen berichten davon, dass sie das IKRK nicht erreichen können. Was sagen Sie dazu?

Wir erhalten viele Anrufe und E-Mails von Familien und tun alles in unserer Macht stehende dafür, diese so schnell wie möglich zu beantworten. Wir sind uns bewusst, dass die Familien schreckliche Angst um die Sicherheit ihrer Angehörigen haben, die gegebenenfalls vom Angriff in Oleniwka betroffen sind. Das Warten auf Neuigkeiten kann sich wie eine Ewigkeit anfühlen. Die Familien können das IKRK auf verschiedenen Kanälen kontaktieren; sobald dem IKRK Informationen über Angehörige vorliegen, werden diese unmittelbar weitergegeben. Viele Familien warten jedoch immer noch auf Antworten.

Gemäss den Genfer Abkommen muss die jeweilige Partei den Zentralen Suchdienst des IKRK so schnell wie möglich über das Schicksal jedes einzelnen Kriegsgefangenen (Überlebende, Verwundete, Getötete) informieren, damit die Familien eine Antwort erhalten. Sie können den Zentralen Suchdienst des IKRK hier oder per E-Mail kontaktieren. Ausserdem können Sie das IKRK per Telefon unter +41 22 730 3600 erreichen.

In einer früheren Version dieser Seite war zu lesen, dass das IKRK im Mai einmal in der Haftanstalt in Oleniwka war. Dies wurde dahingehend berichtigt, dass das IKRK im Mai zweimal dort war: einmal, um die Bedürfnisse der Kriegsgefangenen zu ermitteln, und das zweite Mal, um Wassertanks zu liefern.

WATCH: Prisoners of war | The Laws of War

Weitere Informationen:

> Humanitarian Law and Policy Blog: Shielding prisoners of war from public curiosity

> Zentraler Suchdienst des IKRK: Online-Kontaktformular / Kontakt per Email / Telefon: +41 22 730 3600