Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Oberbürgermeister,
Sehr geehrter Herr Professor Xylander,
Liebe Gerda,
Geschätzte Gäste,
Es ist mir eine grosse Ehre, hier vor Ihnen zu stehen und den Brückepreis entgegenzunehmen. Diese Auszeichnung würdigt das den Menschen gemeinsame Streben, sich für eine friedliche Ordnung einzusetzen. Die Symbolkraft dieses Preises berührt mich in dieser historischen Stadt Görlitz/Zgorzelec ganz besonders – denn diese hat nicht nur Trennung erfahren, sondern ist an ihr gewachsen und setzt heute ein Beispiel für Einheit und gemeinsames Handeln.
Es ist eine Grenzen übergreifende Stadt, die durch den Willen zum Frieden neu aufgebaut wurde – einem Ort, an dem die Brücken, die Menschen verbinden, auch an die Beständigkeit und die Kraft des gemeinsamen Glaubens an eine bessere Zukunft erinnern.
Als Präsidentin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) bin ich mir stets der Bedeutung und Verantwortung unserer Mission bewusst: die Menschlichkeit inmitten von Konflikten zu wahren, Brücken zu bauen über ideologische Gräben hinweg, neutral und unparteilich zu handeln; und alle Akteure daran zu erinnern, dass es selbst im Krieg Grenzen gibt, die niemals überschritten werden dürfen.
Die Förderung und Durchsetzung des Rechts ist kein historischer Zufall. Universell gültige Vereinbarungen wie wir sie im humanitären Völkerrecht wiederfinden, geben uns nicht nur einen verpflichtenden Rahmen, um Leid zu begrenzen. Die sogenannten vier Genfer Konventionen, die seit 1949 bestehen und seither von allen Staaten ratifiziert wurden, eröffnen Staats- und Regierungschefs heute, 75 Jahre nach ihrer Verabschiedung, möglicherweise den entscheidenden Schlüssel zum Frieden.
Durch unparteiliche Fürsprache und Beharrlichkeit können Räume geschaffen werden, in denen verfeindete Parteien die Menschlichkeit des anderen erkennen und Wege zur Annäherung finden. In dieser Brückenarbeit meiner gegenwärtigen Aufgabe sehe ich eine Übereinstimmung mit den Werten des Brückepreises, und ich bin zutiefst dankbar, diese Auszeichnung zu erhalten.
Ich nehme diesen Preis mit Demut in den Fussstapfen früherer Preisträger an, deren Arbeit tief mit den humanitären Werten meiner Organisation verbunden ist. Ich denke dabei unter anderen an Władysław Bartoszewski, den ehemaligen polnischen Aussenminister und Ausschwitz-Überlebenden, der seine Stimme einsetzte, um die Menschenrechte zu verteidigen und Brücken zwischen Völkern zu bauen, die die Geschichte entzweit hatte. Sein Einsatz für Gerechtigkeit, Mitgefühl und Versöhnung spiegelt die Mission des IKRK wider: der Welt zu zeigen, dass selbst im Krieg die Menschlichkeit bewahrt werden muss.
Krieg ist kein rechtsfreier Raum. Sich auf die Gegenpartei einlassen, sie in ihren Rechten wie auch Pflichten zu respektieren und ernst zu nehmen, ist heute wichtiger denn je.
Ich war vergangene Woche im Sudan. Wenn ich in Konfliktregionen reise, erlebe ich hautnah, wie Polarisierung und entfesselte Gewalt ganze Gemeinschaften zerstören. Ich sehe das Leid der Zivilbevölkerung, mehrfach vertrieben, ohne Zugang zu Nahrung, medizinischer Versorgung oder einem sicheren Ort.
Die Genfer Abkommen bilden das Fundament des humanitären Völkerrechts – einen Grundsatzkatalog, der aus dem Wunsch geboren wurde, das Leid in Kriegszeiten zu begrenzen. Auch die Konventionen bilden eine Brücke – die Verbindung zwischen Krieg und Frieden, zwischen Moral und Legalität, zwischen Brutalität und Barmherzigkeit.
Ich bin mir wohl bewusst, dass das Völkerrecht Kriege nicht verbietet. Im Gegenteil. Es gibt sowohl das „Recht zum Krieg“ wie auch das „Recht im Krieg“. Zivile Opfer im Krieg werden je nach Kontext und Standpunkt sogar als rechtlich vertretbar erachtet.
So schreiben die Genfer Konventionen zwar vor, dass selbst im Krieg Krankenhäuser verschont, Zivilisten geschützt und Verwundete versorgt werden müssen. Die Herausforderung liegt allerdings darin, dass das humanitäre Völkerrecht das entschuldbare Mass an Leid und Zerstörung nicht quantifiziert.
Aus menschlicher Sicht jedoch – und darum geht es mir heute und hier ganz besonders – sind militärische oder bewaffnete Operationen, die das Leid der Zivilbevölkerung in den Dienst der Zielerreichung stellen, moralisch höchst verwerflich.
Denn folgen wir nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geist des Rechts, dann geht es genau darum: die Wahrung der Menschenwürde unter allen Umständen. Denn überall dort, wo die Menschlichkeit negiert und die gleichen Rechte des Feindes in Abrede gestellt werden, dort wo Menschen in Sippenhaft genommen werden, sind die Grenzen des Entschuldbaren bereits überschritten und die Rückkehr zum Frieden über Generationen hinweg unrealistisch geworden.
Grundsätzlich muss man sich immer fragen, auf welchen Sieg man denn genau hinzielt? Sind es endlose Trümmer, zerstörte Städte, Millionen von Toten, Verwundeten, Geflüchteten? Die Geschichte hat uns mehrfach gelehrt, dass die Entmenschlichung des Feindes am Ende alle am Konflikt beteiligten Parteien in den Abgrund zieht.
Wahre Führungskraft liegt im Mut, mit politischen Mitteln den Weg zurück zur Normalität zu ebnen.
Humanitäre Diplomatie, wie zum Beispiel das Aushandeln von Waffenruhen, ist nichts anderes als ein Werkzeug, um mit politischen Entscheidungsträgern, militärischen Befehlshabern und jenen, die einen selbst vielleicht als Gegner betrachten, in den Dialog zu treten. Die Arbeit neutraler humanitärer Akteure wird dort am effizientesten unterstützt, wo es sich Staatsführer, Politiker und Diplomaten zur Aufgabe machen, ihre Alliierten an die gemeinsame Verantwortung zu erinnern, die Zivilbevölkerung zu schützen, Kriegsgefangene und Verwundete mit Anstand zu behandeln, und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts zu wahren.
Als Vertreterin des Roten Kreuzes ist Diplomatie für mich letztlich ein Instrument im Dienst des Friendens.
Diplomatie ist ein Akt, der Vernunft und Mitgefühl mit Entschlossenheit vereint. Meine Organisation macht es sich zur Aufgabe, Machtträger daran zu erinnern, dass sie den Menschen, denen sie dienen, verpflichtet sind; dass sie universellen Werten verpflichtet sind; und dass die Weltgemeinschaft den Verfall der menschlichen Würde nicht ohne Schaden hinnehmen wird.
Diplomatie als Brückenbauerin zwischen Krieg und Schutzverantwortung erfordert Beharrlichkeit, Demut und vor allem die Überzeugung, dass die uns allen gemeinsame Menschlichkeit nicht in die Waagschale geworfen werden darf; dass jeder Mensch vor dem Recht gleich ist.
Doch die Einhaltung des humanitären Völkerrechts ist mehr als nur eine Pflicht – sie ist eine Möglichkeit, Gewalt zu deeskalieren und einen Weg zum Frieden zu schaffen. Wenn Konfliktparteien bereit sind, zwischen Zivilisten und Kämpfern zu unterscheiden, Städte zu verschonen und humanitäre Hilfe zu gewähren, dann vermeiden sie nicht nur Rechtsverstösse, sondern schaffen auch eine Grundlage für Versöhnung. Die Art, wie Kriege geführt werden entscheidet darüber, wie und wann sie beendet werden.
Den Gegner menschlich zu behandeln – diejenigen zu schützen, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind – erhöht die Chance, dass beide Seiten eines Tages Frieden finden. Ein Sieg „um jeden Preis“ ist kein Sieg, denn er hinterlässt zerstörte Gesellschaften und säht damit bereits den nächsten Konflikt.
Das humanitäre Völkerrecht ermöglicht uns, einen anderen Sieg zu erdenken – einen Sieg, der auf ein gegenseitiges Friedensabkommen abzielt. Einen Sieg, der immer die Möglichkeit miteinschliesst, zum Verhandlungstisch zurückzukehren.
In Gesprächen mit Konfliktparteien betone ich, dass die Achtung des humanitären Völkerrechts keine blosse Richtlinie, sondern eine Verantwortung ist, die uns alle bindet. Es ist primär eine staatliche Verantwortung hin zu mehr Sicherheit und Stabilität für das eigene Land.
Wenn Konfliktparteien sich dazu verpflichten, Frauen und Kinder zu schützen, verwundete Soldaten und Kriegsgefangene freizulassen, dann tun sie mehr als das Gesetz zu befolgen – sie ebnen den Weg zu Dialog, Verständnis und einer möglichen Waffenruhe. Humanitäre Arbeit wird damit zu einem mächtigen Werkzeug für den Frieden. Ein Werkzeug, das den Raum bewahrt, in dem Vertrauen wieder aufgebaut werden kann.
Die Arbeit des Roten Kreuzes steht vor der ständigen Herausforderung, diesen humanitären Raum herzustellen und zu bewahren, oft unter grössten Widerständen, Fehlinterpretationen oder gar heftiger Kritik. Aber wir bleiben beharrlich.
Unsere Neutralität und Unparteilichkeit sind ein Leuchtfeuer in Zeiten grosser Konflikte und geopolitischer Spannungen. Sie erlauben es uns, alle Seiten mit Respekt zu behandeln, Beziehungen über Gräben hinweg aufzubauen und ständig neue Wege zu finden, um das Leid der Zivilbevölkerung wenigstens ein Wenig zu verringern. Es ist eine Arbeit, die selbst in den gefährlichsten Regionen der Welt geleistet wird. Und sie ist der Beweis für die Widerstandskraft der Menschlichkeit und den Mut, den es braucht, auch unter widrigsten Umständen an unseren humanitären Grundsätzen festzuhalten.
Gerade die Neutralität ist für uns von entscheidender Bedeutung. Wenn das IKRK verwundete Soldaten auf beiden Seiten der Front versorgt, die Freilassung von Gefangenen erreicht oder Familien über Frontlinien hinweg wieder zusammenführen kann, dann zeigen wir, dass humanitäre Arbeit eine Brücke ist, die keine Teilung durchtrennen kann. Jedes Mal, wenn Befehlshaber ihre Truppen instruieren, Krankenhäuser zu schützen oder Hilfslieferungen in von ihnen belagerte Gebiete zuzulassen, entstehen Momente gemeinsamer menschlicher Handlungsfähigkeit.
Solche Momente mögen zwar flüchtig sein, doch sie sind die Fundamente, ohne die ein dauerhafter Frieden nicht möglich wäre. Jede Handlung, die das humanitäre Völkerrecht respektiert, jede Geste des Mitgefühls in Zeiten der eigenen Not, trägt zu einem Vermächtnis für den Frieden bei.
Die Stadt Görlitz/Zgorzelec weiss um die Kraft solcher Brücken. Hier, wo die Neisse einst Familien, Freunde und Gemeinschaften trennte, sehen wir die Kraft, die es braucht, wieder neu anzufangen.
Ich bin davon überzeugt, dass humanitäre Arbeit uns einen universellen Gedanken erkennen lässt: dass allen Unterschieden eine gemeinsame menschliche Handlungsweise zugrundeliegt. In einer Welt voller Konflikte wird dieser Gedanke zu einer leitenden Kraft. Er erinnert uns daran, dass wir in jedem Verhandlungsprozess, in jedem Akt der Hilfe und in jedem Menschen, dem wir begegnen, die Anerkennung der Daseinsberechtigung und der Würde des Andern bekräftigen.
Diese universelle Wahrheit überwindet Grenzen, Sprachen und Überzeugungen. Sie ist eine Brücke zum Frieden in seiner reinsten Form.
Staaten sind in der Regel nicht, und womöglich nur selten wirklich neutral. Kriegsparteien sind es naturgemäss nie. Deswegen braucht es unabhängige und neutrale Mittler. Und es braucht jene, die sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen.
Die dem internationalen Roten Kreuz inhärente Neutralität öffnet Türen, die sonst verschlossen wären, und sie ermöglicht uns, Kommunikationskanäle aufrecht zu erhalten sowie den gegenseitigen Respekt zwischen den Konfliktparteien zu fördern. Dieses Vertrauen wird nicht leichtfertig erworben – es erfordert Hingabe, Beständigkeit und ein unbeugsames Bekenntnis, jeden Menschen gleich zu behandeln, unabhängig von seiner Zugehörigkeit oder Überzeugung.
Neutralität als Brückenbauerin erfordert ähnlich der Politik, Mut und Belastbarkeit. Beides spiegelt die Einheit wider, die Görlitz/Zgorzelec so mühevoll aufgebaut hat. Der Brückepreis ermutigt mich, diesen Weg weiterzugehen und meinen vielen Kolleginnen und Kollegen rund um den Globus bei ihrem steten und oft gefährlichen Einsatz beizustehen. Dabei denke ich auch an unsere wichtigsten Partner, die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften und deren zahlreiche ehrenamtliche Helfer, die täglich im Einsatz stehen. Es sind oft junge Menschen, die in Krisengebieten unterwegs sind, viel auf sich nehmen, und bisweilen ihr Leben riskieren.
Der Brückenpreis ist für mich kein Abschluss, sondern ein Zeugnis für die Arbeit, die noch vor uns liegt. Er erinnert mich und uns alle daran, dass der Weg zum Frieden vielleicht schwierig ist, aber jede Anstrengung wert.
Mögen wir dieses Werk fortsetzen, vereint in unserem Engagement für Menschlichkeit und geleitet von der Überzeugung, dass Frieden nicht nur möglich, sondern unerlässlich ist. Ich danke der Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Brückenpreises für die Ehre, die mir heute zu Teil wird. Mein Dank geht an das Deutsche, das Polnische und das Tschechische Rote Kreuz. Ganz besonders danke ich Präsidentin Gerda Hasselfeld. Uns verbinden gegenseitiges Vertrauen und eine enge Zusammenarbeit, die ich persönlich schätze und hochhalte.
Vielen Dank.