Erklärung

Rede von IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric zur Auszeichnung des IKRK mit dem Marion-Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung

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Frau Staatsministerin, sehr geehrte Jurymitglieder, 

verehrte Gäste, 

liebe Gerda, 

Es ist mir eine grosse Ehre, im Namen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz den Marion-Dönhoff-Preis entgegenzunehmen.

Marion Dönhoff war eine starke Frau, die verstand, dass wahre Führung einen klaren Kopf, einen moralischen Kompass, und Mut zur Unabhängigkeit bedingt.

Ausserdem fand Marion Dönhoff gerade in Hamburg eine neue Heimat. 

Diese Stadt ist nicht nur ein Ort des Handels und der Weltoffenheit – sie ist auch ein Ort, an dem humanitäre Geschichte geschrieben wurde. Am 2. Februar 1864 gründeten zwölf Hamburger Kaufleute das „Komitee zur Pflege der Verwundeten und Verletzten“ – eine der ersten zivilen Hilfsinitiativen dieser Art weltweit und der Vorgänger des DRK Landesverbandes Hamburg.

Das IKRK klassifiziert derzeit rund 130 bewaffnete Konflikte weltweit – mehr als doppelt so viele wie noch vor 15 Jahren. Kriege dauern lange, werden mit brutaler Gewalt ausgefochten, und ihre Anführer missachten immer häufiger die Regeln, die Grausamkeit im Krieg begrenzen sollen. 

Seit über 160 Jahren arbeiten wir daran, Opfer bewaffneter Konflikte durch neutrale, unabhängige und unparteiische humanitäre Massnahmen zu schützen. Was uns dabei hilft ist unsere Fähigkeit, mit allen Konfliktparteien zu sprechen. Es braucht Mut und Unbestechlichkeit, sich mit jenen an den Tisch zu setzen, die die Welt verurteilt. 

In Gaza und Israel haben wir kürzlich heikle Operationen durchgeführt, um Geiseln und Gefangene wieder mit ihren Familien zu vereinen. Unser Einsatz ist damit jedoch nicht abgeschlossen. Gaza ist zerstört, und noch liegen Tausende unter den Trümmern vergraben.
Im Sudan erleiden Zivilisten unermessliches Leid, ohne dass sich ein Ausweg abzeichnet. Kein anderer Krieg treibt derzeit mehr Menschen in Flucht und Armut. 

Der Zentrale Suchdienst des IKRK hat im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine über 170.000 Menschen als vermisst registriert. Hinter diesen Zahlen stehen Familien und Angehörige, die auf eine Nachricht, auf ein Lebenszeichen hoffen. 

Diese Beispiele veranschaulichen, welch vielfältige Facetten an menschlichem Leid das Schicksal in Konfliktgebieten annehmen kann. Es sind die vermissten Geschwister, es ist die durch eine Landmine verlorene Eigenständigkeit, es ist das bleibende Trauma nach Gewalt und Verwüstung.

Dennoch wird schweren Verletzungen des Kriegsvölkerrechts, mit anderen Worten Kriegsverbrechen, heute mit beunruhigender Toleranz begegnet. Die Regierungen dieser Welt schaffen es selbst dann nicht, entschieden genug einzugreifen, wenn sogar dringend notwendige Nahrungsmittelhilfe dazu missbraucht wird, militärische Ziele zu erreichen. Dabei erinnert uns gerade Marion Dönhoffs Leben daran, dass es für hilfloses Zuschauen oder gar passives Mitlaufen keine Ausrede geben darf. Gemäss ihrer eigenen Worte kannte sie das Gefühl, das auch mich jeden Tag aufs Neue umtreibt: man muss etwas tun.

Das Einstehen für die Wahrung eines Minimums an Menschlichkeit baut Brücken. Die Art, wie der Feind behandelt wird, entscheidet darüber, ob Frieden überhaupt erst möglich ist.
Weltweit gibt es rund 450 bewaffnete Gruppen. Das IKRK spricht mit ungefähr der Hälfte von ihnen. Alle Parteien sind im bewaffneten Konflikt an das humanitäre Völkerrecht gebunden. Die Hauptverantwortung liegt jedoch bei den Staaten. 

Warum sage ich das?

Hannah Arendt beschrieb ein Paradox, das heute relevanter ist, denn je: wie kann man handeln, ohne sich von parteilichen Emotionen treiben zu lassen? Sie unterschied zwischen persönlicher Liebe und politischem Handeln und betonte, dass Politik nicht aus Gefühlen, sondern aus dem Entstehen von Beziehungen zwischen Menschen erwächst – einem gemeinsamen Bezugspunkt, einem „Inter-esse“, der Raum für Verständigung schafft. 
Dasselbe gilt meines Erachtens für Beziehungen zwischen Staaten.

Ein gemeinsamer Bezugspunkt sind die Genfer Konventionen, in denen auch das Mandat des IKRK fusst. Die vier Übereinkommen wurden 1949 von Staaten geschaffen, um unter allen Umständen ein bedingungsloses Minimum an Menschlichkeit zu wahren. Ihre Geltung ist universell.

Was wir an den Verhandlungstisch bringen, ist keine Liebe, sondern eine unerschütterliche Verpflichtung und ein klares Interesse – die Anerkennung des Anderen, die Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen, unabhängig davon, auf welcher Seite er oder sie stehen. Unsere Unparteilichkeit ist keine Distanz, sondern die Methode, mit der wir diese Haltung wirksam machen. Sie ermöglicht uns, dort zu handeln, wo Emotionen, Hass und Misstrauen sonst jede Tür verschliessen würden.

Das IKRK ist keine Friedensorganisation, doch die ersten Schritte zum Frieden sind humanitär. Dank unserer Neutralität öffnen sich Türen, die anderen verschlossen bleiben. Indem wir nie Partei ergreifen, schaffen wir Kommunikationsgefässe und setzen lebensrettende Absprachen zwischen Konfliktparteien um.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ohne normative Basis gibt es kein politisches Handeln. Wenn der Krieg tatsächlich Politik ist mit anderen Mitteln, dann ist meine Antwort, selbst im Krieg gelten Regeln. Rechtsfrei ist nur die abstrakte Idee des Naturzustands. Wer sich Macht und Sieg um jeden Preis zum Ziel setzt, nimmt zugleich die totale Selbstzerstörung in Kauf. 

Aber: das Recht allein genügt nicht.

Führung zeigt sich nicht darin, nur die Mindestanforderungen des Rechts zu erfüllen, sondern die Würde jedes Menschen ins Zentrum jeglichen Handelns zu stellen – selbst, ja gerade, wenn alles andere zu zerfallen droht. In einer zunehmend polarisierten Welt ist das Einhalten von Recht keine Schwäche, sondern eine Stärke. Gerade heute braucht die Welt starke Persönlichkeiten und politische Führung, die bewusst nie mit zwei Ellen misst. Sie stellt sich kompromisslos auf die Seite der Rechtsstaatlichkeit.

Wer als Staats- und Regierungschefin die Regeln des humanitären Völkerrechts für alle Seiten anwendet – wer Gefangene menschlich behandelt, Zivilisten humanitäre Hilfe gewährt und selbst in dunkelsten Krisen menschlich handelt –, der schützt zugleich seine eigene Bevölkerung. 

Humanität gegenüber dem Feind ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein wirksames Mittel, Leben zu retten und grösseres Leid zu verhindern – das belegen unsere 160 Jahre Erfahrung in den brutalsten Konflikten. 

Das Recht ist jedoch nur so stark wie das politische Gewicht, das ihm beigemessen wird. Fast 100 Staaten – darunter auch Deutschland – haben sich seit 2024 einem Appell von Brasilien, China, Frankreich, Jordanien, Kasachstan, Südafrika und des IKRK angeschlossen, um das humanitäre Völkerrecht politisch in den Vordergrund zu rücken. 

Diese globale Initiative vereint Staaten über Kontinente hinweg und fordert sie zugleich auf, das Recht im Krieg zu stärken und seine Umsetzung zu verbessern. Deutschland trägt besondere Verantwortung, indem es gemeinsam mit Peru den Philippinen und dem Vereinten Königreich eine Arbeitsgruppe zu nationalen Komitees für humanitäres Völkerrecht leitet. Diese Initiative zeigt, dass selbst in einer geteilten Welt gemeinsame Grundwerte verbindend wirken können. 

Entscheidend ist: wo in militärische Verteidigung investiert wird, muss auch in die Stärkung der Regeln im Krieg investiert werden. Denn diese wurden dafür geschaffen, die eigene Zivilbevölkerung im Ernstfall maximal zu schützen. 

Unsere Erfahrung zeigt: auch gefestigte Demokratien können im Konfliktfall nicht automatisch eine verbindliche Einhaltung der Genfer Konventionen garantieren. Marion Dönhoff, die mit ihrer publizistischen Arbeit das moralische Denken Deutschlands über Jahrzehnte prägte, erinnert uns eindrücklich daran, dass wir alle Verantwortung für die Welt tragen, in der wir leben. Ihr Vermächtnis mahnt zur Wachsamkeit und zum gemeinsamen Einsatz für Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Das humanitäre Völkerrecht ist dabei ein wichtiges Mosaikstück. 

Ich nehme diese Auszeichnung im Namen all meiner Kolleginnen und Kollegen entgegen, die weltweit unter erheblichem persönlichem Druck im Einsatz sind. Mein besonderer Dank gilt dabei auch unseren Partnern in den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, insbesondere dem Deutschen Roten Kreuz. Dieser Preis gehört all jenen, die tagtäglich unermüdlich Menschen in Konfliktgebieten Hilfe und Hoffnung bringen. Er ehrt insbesondere alle humanitären Helfer, die jedes Jahr im Einsatz ihr Leben verlieren.

Der Marion-Dönhoff-Preis ist kein Abschluss, sondern ein Auftrag. Er erinnert daran, dass der Weg zum Frieden steinig ist. Ihn zu bewahren, ist nicht nur eine politische, sondern auch eine individuelle moralische Verantwortung.

Vielen Dank.