Erinnerungen verflechten: Kunst als geistige Brücke zu den vermissten Angehörigen

Die Folgen des Verschwindens eines geliebten Menschen sind weder zeitlich noch räumlich beschränkt: Die Ungewissheit und der Schmerz, der durch das Fehlen der Person entsteht, wirken sich auf alle Aspekte des Lebens der Angehörigen aus. Sie können sich auf die nachfolgenden Generationen übertragen und haben Folgen für ganze Gemeinschaften und die Gesellschaft.
In Guatemala verschwanden während des Bürgerkriegs mindestens 45 000 Menschen. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl an Personen in den letzten Jahren, darunter viele Migrantinnen und Migranten. Tausende Familien suchen noch immer nach ihren Angehörigen.
Ende 2024 organisierte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit der Unterstützung des „Casa de la Memoria“ (Haus der Erinnerung) und der Mitwirkung von Angehörigen von Vermissten in Guatemala einen Papierdrachen-Workshop. Die Veranstaltung fand im Rahmen der regionalen Ausstellung „Tejer Memoria: el legado de quienes nunca dejaron de buscar“ (Erinnerungen verflechten: das Erbe derjenigen, die nie aufgehört haben, zu suchen) statt, bei der es darum geht, Menschen zu würdigen, die verstorben sind, bevor sie ihre vermissten Angehörigen gefunden haben. Die Ausstellung will auch betonen, dass dringend gehandelt werden muss, um den Familien zu helfen, die für sie so wesentliche Gewissheit zu erlangen.
Während des Workshops suchten die Familien nach einem gemeinsamen Weg, um ihren Schmerz zu kanalisieren und die Erinnerung an ihre Liebsten zu ehren. Ihre Geschichten fanden so einen Raum, um angehört, geteilt und in Resilienz und Gedächtnis verwandelt zu werden. Arlet Miranda, Feliciana Macario Tevalán und Juana González León berichteten von ihrer Suche. Ihre Stimmen zeugen vom geteilten Schmerz angesichts des Verschwindens, verstärkt durch Jahre der Ungewissheit.
Papierdrachen und Erinnerung: ein Flug in Richtung Hoffnung
Julio Roberto Asturias Chiquitó, Präsident des ständigen Drachenkomitees von Sumpango, erklärt die Symbolik dieser Flugobjekte: „Die Drachen sind am Anfang ein unbeschriebenes Blatt und symbolisieren so den Beginn des Lebens. Dann füllen sie sich mit Farben und Formen. Dadurch widerspiegeln sie die Erfahrungen und Emotionen derjenigen, die sie erschaffen.“
Der Papierdrachen-Workshop in Guatemala war ein Ort der Begegnung und der Heilung. Kleine farbige Papierfragmente wurden in den Händen der Angehörigen von Vermissten zum Leben erweckt. Sie verwandelten sich in Herzen, Blumen, menschliche Figuren, die miteinander verflochten wurden, um die Geschichte der Suche zu erzählen. Die Teilnehmerinnen fertigten ausserdem einen Riesendrachen an, der sie alle einte: Darauf konnte man Sätze wie „Luz Haydé, Paula, Josefina: Wir suchen weiter nach dir“ lesen, begleitet von Abbildungen von Vermissten, Vögeln und Händen – ein Symbol für die Erinnerung und die kontinuierliche Suche. Jeder fertig bespannte Rahmen, bereit zum Aufsteigen, war ein Ausdruck von Schmerz und Hoffnung.
Laut Julio können diese Drachen für die Angehörigen mehr als nur ein Kunstwerk sein: Sie sind eine geistige Brücke zu ihren Liebsten und ein konkreter Weg, der ihnen ermöglicht, ihr soziales Netz neu aufzubauen.
Das Erbe von Miriam Orozco auf der Suche nach ihrem Sohn Jaime

Arlet Miranda, die Präsidentin des Guatemaltekischen Vereins der Angehörigen verschwundener Migranten, erzählte die Geschichte der unermüdlichen Suche nach ihrem Bruder Jaime Jernot Miranda Orozco, angeführt durch seine Mutter, Miriam Orozco.
Jaime, ein fröhlicher junger Mann, der gerne tanzte, verschwand im Jahr 2019 beim Versuch, in die USA zu gelangen. Die letzten Nachrichten, die seine Familie von ihm erhielt, waren mehrere Anrufe, bei denen er erzählte, er sei in der mexikanischen Hauptstadt angelangt und würde bald „La Bestia“ besteigen, den Zug, der Mexiko durchquert.
Mitte 2024 verstarb Miriam Orozco, ohne erfahren zu haben, was mit ihrem Sohn geschehen war. Ihre Abwesenheit hinterliess eine grosse Leere – ein doppelter Verlust für die Familie.
Arlet sagt, Miriam hätte gespürt, dass ihr Sohn gestorben war. Dennoch hatte sie nicht aufgehört, ihn zu suchen. „Meine Mutter sagte: Dein Bruder Jaime lebt nicht mehr, aber ich möchte seine Leiche sehen … Dein Bruder ist tot, ich weiss es. Doch wenn es nicht möglich ist [ihn zu finden], begebt euch nicht in Gefahr. Am Ende werde ich mit ihm vereint sein, begebt euch nicht in Gefahr.“

Nach dem Tod von Miriam wurde die Suche nach ihrem Bruder für Arlet zusätzlich zu ihrem Wunsch, zu erfahren, was mit dem Bruder geschehen war, zu einer Art Gedächtnis an ihre Mutter. „Wir dürfen es nicht dabei bleiben lassen, dass wir nichts unternommen haben und jeder [von den Geschwistern] sein Leben weitergelebt hat […]. Wir alle fragen uns weiterhin, was in seinem Leben geschehen ist, warum er nicht mehr anrief.“
Miriam Orozco widmete ihre Kraft, ihre Geeintheit und ihr Engagement auch der Suche nach anderen Vermissten. „Sie sagte [zu mir]: Du wirst viel erreichen und wenn du deinen Bruder nicht findest, wirst du andere finden. Es gibt ein Ziel, und du wirst es erreichen, du wirst schon sehen“, erzählt Arlet.
Sie sucht seit 43 Jahren: Feliciana Macario Tevalán

Feliciana Macario Tevalán sucht seit 1981 nach ihrer Schwester Josefina, die während des Bürgerkriegs verschwand. Damals war Feliciana erst zehn oder zwölf Jahre alt, und sie widmete ihr Leben der Forderung nach der Wahrheit darüber, was mit ihrer Schwester geschah und wo sie geblieben ist.
Vor rund 20 Jahren, als Feliciana begann, andere Familien von Vermissten zu begleiten, hörte sie auf, von ihrer Schwester zu träumen. „Bevor ich mich mit dem Thema der Würde der Familien befasste, mit der Suche […], träumte ich von ihr. Ich träumte, dass sie nach Hause kam, und das Erste was ich sagte, war: Wir haben dich gesucht.“ Auch wenn Feliciana heute nicht mehr von ihrer Schwester träumt, fordert sie weiterhin Antworten auf die Frage, wo sich Josefina befindet und was mit ihr geschah.
Dass Feliciana ihre Schwester je wiedersehen wird, scheint schwer vorstellbar. Dennoch wäre das eine grosse Freude und sie verliert die Hoffnung nicht: „Es besteht keine Gewissheit darüber, was ihr zugestossen ist, wir können auch nicht sicher sein, dass sie tot ist […], und wenn ich auch nur ein Knochenfragment oder einen Fetzen der Kleidung meiner Schwester finden würde, ich möchte die Gewissheit haben, dass sie es ist, dass sie dort war, damit meine Ungewissheit dort ein Ende nehmen könnte.“
Gedenkstätten und Räume wie der Drachen-Workshop sind für Feliciana wesentlich, nicht nur, um das Gedächtnis derjenigen, die suchen, zu würdigen, sondern auch, weil es Wege sind, die Wahrheit zu suchen und dafür zu sorgen, dass sich die Geschehnisse nicht wiederholen.
Die Last des Nichtwissens: Juana González León

Juana González León sucht seit 13 Jahren nach ihrem Bruder Carlos Manuel. Er verschwand auf der Migrationsroute in die USA und hinterliess eine Leere bei seiner Familie, die Worte unmöglich beschreiben können.
Für Juana ist es äusserst schmerzhaft, dass Mütter und Angehörige sterben, ohne den Verbleib ihrer Liebsten zu erfahren, dass sie die Frage nach dem Aufenthaltsort und dem Schicksal ihrer Kinder mit ins Grab nehmen. „Mitanzusehen, dass Mütter aus diesem Grund sterben, weil sie jeden Tag traurig sind und sich Sorgen machen, macht mich wütend […], aber auch sehr traurig, denn aus diesem Grund wurden sie krank: Einige aus dem Verein sind an Diabetes oder gar an Krebs gestorben.“
Der Verein der Angehörigen verschwundener Migranten, zu dem Juana gehört, ist ein Ort der Solidarität und der Unterstützung, aber auch eine Mahnung an die Last der Familien von Vermissten, die gezwungen sind, für die Suche ihr Leben zu ändern: „Ich begann in dieser Organisation ohne Vorwissen. Ich wusste nichts, weil ich nicht darauf vorbereitet war, ich bin eine einfache Hausfrau, aber irgendjemand muss etwas unternehmen für die Verschwundenen […], das ist unerlässlich, um fordern zu können, um nicht zu vergessen. Damit das nicht erlöscht, muss man es wecken, aktivieren, dafür sorgen, dass die Behörden weitersuchen.“
Juana bleibt hoffnungsvoll. Sie träumt davon, ihren Bruder zu finden und den Kindern von Carlos Manuel Antworten geben zu können. „Es ist für seine Kinder und damit eines Tages, falls Gott will und er noch am Leben ist oder in einem Gefängnis oder in einer Anstalt festgehalten wird, er glücklich ist, sich darüber freut, dass er unterstützt wird.“
Ihr Kampf, fügt sie hinzu, sei nicht nur für Carlos Manuel, sondern für alle Migrantinnen und Migranten, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft verschwanden.
Ein kollektives Zeugnis von Resilienz
Die Geschichten von Arlet, Feliciana und Juana zeugen von Kraft und Resilienz angesichts des Fehlens geliebter Menschen.
Ihre Stimmen, verflochten mit den Farben und dem Flug der Drachen, ermahnen uns, dass Erinnerung und Wahrheit entscheidend sind, um die Wunden zu heilen. Mithilfe des kollektiven Gedächtnisses würdigen die Familien nicht nur diejenigen, die fehlen, sondern sie geben auch den zukünftigen Generationen Hoffnung und begleiten sich gegenseitig, um ihr Vorgehen zu stärken. Denn, wie diejenigen, die suchen, zu sagen pflegen: Die Liebe ist es, die ihre unermüdliche Suche antreibt, und sie werden nicht innehalten, bis sie Antworten gefunden haben.
Das IKRK ist eine neutrale, unparteiische und unabhängige Organisation. Es unterstützt die Suche nach Vermissten in Mexiko und in Mittelamerika, indem es die Familien begleitet und den an der Suche beteiligten Behördenstellen fachliche Hilfe leistet.