Für die Geiseln in Gaza ist das Rote Kreuz neutral – doch wir sehen nicht tatenlos zu

Die erste Phase des Waffenstillstandsabkommens zwischen Israel und der Hamas ist ausgelaufen. Es waren nervenaufreibende, anstrengende, schwierige Wochen, in denen überschwängliche Glücksgefühle und unbeschreiblicher Schmerz nahe beieinanderlagen. 30 Geiseln kehrten lebend nach Israel zurück, 8 Verstorbene konnten dank der Rückführung würdig bestattet werden und 1 510 palästinensische Gefangene wurden freigelassen.
Ich war am 7. Oktober nicht in Israel. Doch als ich im Land ankam, war der Schmerz dieses schrecklichen Tages überall, in jedem Winkel und in jedem Menschen, beinahe physisch spürbar. Ich merkte, wie diese schwere humanitäre Krise die israelische Gesellschaft komplett veränderte.
Die Aufgabe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) als humanitäre Organisation besteht darin, allen von Konflikten betroffenen Menschen zu helfen. Wir verrichten diese Arbeit an einigen der schwierigsten Orte der Welt – manchmal erfolgreich, manchmal weniger. Wir verrichten diese Arbeit mit einem Grundsatz, der den meisten fremd ist: Neutralität. Wir ergreifen in Konflikten oder Auseinandersetzungen politischer, rassischer, religiöser oder ideologischer Art keine Partei. Wir versuchen, zwischen Kriegsparteien Brücken zu bauen und uns nur auf die Interessen der betroffenen Menschen auf beiden Seiten zu konzentrieren.
Dieser Ansatz wird oft kritisiert. Viele glauben, dass Neutralität ein Selbstzweck ist. Einige gehen sogar so weit, dass sie – in gutem Glauben oder böswillig – behaupten, dass Neutralität eine Form der Parteinahme ist. Dies ist ein falsches Verständnis unserer Arbeitsweise.
Wir äussern uns zwar selten öffentlich, doch schweigen wir auch nicht an Orten, an denen wir glauben, Einfluss nehmen zu können. Vom ersten Kriegstag an verurteilten wir die Geiselnahme, machten klar, dass sie illegal und inakzeptabel ist und forderten die Freilassung der Geiseln.
Neutralität gibt uns die Möglichkeit, Einfluss auf beide Seiten zu nehmen, damit sie sich an die Regeln im Krieg halten. Es ist nämlich die vertrauliche diplomatische Arbeit – bei der die Dinge hinter verschlossenen Türen deutlich beim Namen genannt werden, ohne dass die eine oder andere Seite öffentlich an den Pranger gestellt oder unterstützt wird –, die humanitäre Arbeit überhaupt erst möglich macht. Ohne strategische Überlegungen Partei zu ergreifen, kann genau jene Menschen gefährden, denen wir helfen möchten.
Genau dieser Ansatz verschafft uns Zugang zu Orten, die andere nicht erreichen können. Er sollte uns Zugang zu den Geiseln in Gaza verschaffen und erlaubt es uns, die Abkommen, die ihre Freilassung ermöglichen, umzusetzen.
Neutralität ist keine perfekte Methode. In Tat und Wahrheit haben wir keinen Zugang zu den Geiseln in Gaza erhalten. Dies ist extrem enttäuschend für uns, die israelische Bevölkerung und die weltweite Öffentlichkeit. Doch der fehlende Erfolg ist in keiner Weise auf mangelnden Willen, mangelnde Sorgfalt, mangelnde Bemühungen oder undurchsichtige Motive, die uns als Organisation fälschlicherweise und böswillig zugeschrieben wurden, zurückzuführen.
Seit dem 7. Oktober haben wir bei Dutzenden von Sitzungen versucht, diesen lang erwarteten Zugang zu erhalten. Wir haben mit der Hamas und mit Israel, mit den Vermittlern und allen Parteien gesprochen, von denen wir uns Hilfe erhofften. Diese Treffen fanden in Israel, Gaza, Katar, Libanon, Europa und in den USA statt.
Wir vertraten dabei eine unmissverständliche Position. Wir brachten klar zum Ausdruck, dass Geiselnahmen humanitäres Völkerrecht verletzen und alle Geiseln unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden müssen. Zudem forderten wir, dass wir in der Zwischenzeit Zugang zu den Geiseln erhalten müssen und riefen die beteiligten Parteien eindringlich dazu auf, sich an die Regeln im Krieg zu halten. Leider waren diese Bemühungen, die fortgesetzt werden, bisher erfolglos.
Dieser fehlende Erfolg betrifft nicht nur diesen Konflikt. Auch in anderen Teilen der Welt wird uns der Zugang zu Geiseln, Häftlingen und manchmal sogar zu gefangenen Soldaten verweigert. Die israelische Regierung verweigert uns seit dem 7. Oktober auch den Zugang zu palästinensischen Gefangenen.
Es ist legitim, unseren Ansatz zu kritisieren. Wir haben jedoch in verschiedenen Ländern der Welt – Kolumbien, Jemen, Nigeria – die Erfahrung gemacht, dass sich dieser Weg bewährt und es uns letztendlich ermöglicht, zur Freilassung von Geiseln beizutragen.
Und aufgrund unseres Ansatzes haben uns die Parteien, Israel und die Hamas, darum gebeten, bei den gleichzeitigen Freilassungen in den vergangenen Wochen diese Brücke zwischen ihnen zu bauen. Der Ansatz ermöglichte es uns auch, im November 2023 und in den vergangenen sechs Wochen 147 Geiseln nach Israel zurückzubringen. Auch dafür werden wir kritisiert. Für jene, die mit Freilassungen nicht vertraut sind, ist es einfach, die damit verbundenen Anstrengungen herabzusetzen und ihre Durchführung zu kritisieren.
In der Stunde der Wahrheit muss ich Entscheide treffen. Diese Entscheide können sich auf das Schicksal von Menschen auswirken, die mir anvertraut wurden. Ich war es, der das Leben der Geiseln nicht aufs Spiel setzen wollte, jener Geiseln im Mittelpunkt des Geschehens und jener, die als nächste auf ihre Freilassung warteten.
Trotz der schwierigen Szenen – und obwohl wir die Parteien und die Vermittler wiederholt eindringlich aufforderten, die Freilassungen für die Geiseln möglichst würdevoll, diskret und sicher durchzuführen –, war ich derjenige, der entschied weiterzumachen. Unsere Aufgabe, auf die sich die Parteien im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens geeinigt hatten, bestand darin, die Geiseln nach Hause zu bringen. In diesem Moment bedeutete es, dass 38 Geiseln mit ihren Familien zusammengeführt oder angemessen bestattet werden konnten.
Seit dem 7. Oktober treffen wir uns durchschnittlich einmal pro Woche mit Vertreterinnen und Vertretern von Familien. Unsere Absicht besteht darin, ihre Geschichten zu hören und ihre Bedürfnisse zu verstehen. Wir verstehen die Enttäuschung dieser Familienmitglieder darüber, dass wir ihre Liebsten in Gaza nicht besuchen können.
Wir möchten jenen, denen wir zu helfen versuchen, kein zusätzliches Leid zufügen. Wir anerkennen, dass wir in diesen extrem schwierigen Momenten vielen Menschen nicht die benötigte Unterstützung bereitstellen konnten. Auch dies versuchen wir zu verbessern.
Den Familien der 59 Geiseln, die sich noch in Gaza befinden, möchte ich versichern, dass wir weiterhin unser Bestes tun, um ihre Freilassung zu erreichen und Zugang zu ihnen zu erhalten. Für uns ist die Linderung des menschlichen Leids in Konflikten wichtiger als Politik, Ruf oder Kommunikation.
Julien Lerisson ist Delegationsleiter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Israel und den besetzten Gebieten.