Jemen-Konflikt: Repatriierung von Häftlingen ist ein Hoffnungsschimmer

Jemen-Konflikt: Repatriierung von Häftlingen ist ein Hoffnungsschimmer

Vor einem Monat konnten unter Mitwirkung des IKRK mehr als 1000 im Zusammenhang mit dem Jemen-Konflikt inhaftierte Personen freigelassen und in ihre Heimatregionen zurückgebracht werden. Zwei IKRK-Mitarbeiter erinnern sich an die Ereignisse.
Article 13. November 2020 Jemen Vereinigtes Königreich

Bei der zweitägigen Operation handelte es sich um den grössten Einsatz dieser Art seit nahezu sieben Jahrzehnten, an der das IKRK während eines Krieges beteiligt war. „Die Nacht zuvor war kurz, wir waren sehr besorgt, es war viel los, es musste an alles gedacht werden", sagte Fabrizio Carboni, IKRK-Regionaldirektor Naher und Mittlerer Osten.

Die Besorgnis war verständlich. Die Abläufe, mit denen die Freilassung und Überstellung von Häftlingen der Konfliktparteien ermöglicht werden sollte, waren zwei Jahre lang vorbereitet worden. Es durfte kein einziger Fehler gemacht werden.

Es würde keinesfalls leicht sein, mitten in einem Konflikt und einer weltweiten Pandemie eine grössere Anzahl von Menschen zwischen mehreren Städten in zwei Ländern zu transportieren.

„Es begann damit, dass in letzter Minute noch Hindernisse auftauchten", sagte Carboni. „Jede Verzögerung war problematisch, da vereinbart war, dass alle Flugzeuge gleichzeitig starten mussten. Das setzte viel Vertrauen voraus."

„Eine Verzögerung an einem Flughafen hatte Verzögerungen an anderen Flughäfen zur Folge. Wir hatten ein kurzes Zeitfenster für die Operation, die Anspannung und der Stress waren daher recht gross."

Ehemalige Häftlinge warten in Seiyun auf den Einstieg ins Flugzeug
Ehemalige Häftlinge warten in Seiyun auf den Einstieg ins Flugzeug IKRK/Abdellah Alhebshi

Die gemeinsam mit dem Jemenitischen und dem Saudischen Roten Halbmond durchgeführte Operation war das Ergebnis der September-Gespräche in der Schweiz, die auf der Grundlage der Stockholmer Vereinbarung von Ende 2018 geführt wurden.

Aufgabe des IKRK war es, als neutraler Vermittler bei der Beförderung der Freigelassenen zugegen zu sein.

„Am Flughafen war alles etwas chaotisch – viele Leute auf der Startbahn, viel Aufregung und Betriebsamkeit", erzählt Carboni, der sich zu diesem Zeitpunkt in Sana'a aufhielt.

„Meine Kollegen vom IKRK taten ihr Bestes, um die letzten Details zu klären. Freiwillige und Mitarbeitende des Jemenitischen Roten Halbmonds gaben Anweisungen, um den Schutz vor COVID-19 sicherzustellen. Mit der Vorfreude nahm auch die Spannung zu."

Alle Beteiligten, Mitarbeitende und Freigelassene, wurden angewiesen, Masken zu tragen und im Rahmen der Möglichkeien Physical-Distancing-Massnahmen wahren.

Am Vormittag waren zwei Flugzeuge bereit, Sana'a zu verlassen. Doch infolge einer Verspätung auf einem anderen Flughafen konnten sie nicht starten.

„Die Spannung war in den Gesichtern zu sehen. Bei einer weiteren Verspätung begannen die Emotionen hochzukochen", sagte Carboni.

„Aber schliesslich konnte das Flugzeug abheben, und alle waren glücklich, denn nun ging es wirklich los."

Hörbeitrag: Fabrizio Carboni beschreibt im Audio-Tagebuch den detaillierten Ablauf der zweitägigen Operation. (Beitrag in englischer Sprache)

Am späten Vormittag des 15. Oktober starteten fast gleichzeitig fünf Maschinen in den jemenitischen Städten Sana'a und Seiyun und der saudischen Stadt Abha.

Für alle an Bord war es ein grossartiger Augenblick.

„Ich freue mich darauf, wieder bei meiner Familie zu sein, ich vermisse sie sehr", sagte einer der Freigelassenen.

„Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens, denn ich bin wieder frei. Ich hoffe, dass auch die anderen Häftlinge freigelassen werden, und ich hoffe, dass Frieden geschlossen wird und dass die humanitäre Lage im Land besser wird."

Freudengesänge

In Seiyun, mehr als 600 Kilometer entfernt, schaute Thouraya Ben Youssef erleichtert zu, wie das Flugzeug in Richtung Sana'a abhob.

Als IKRK-Schutzdelegierte, die normalerweise in Großbritannien stationiert ist, war sie zur Unterstützung der Operation einberufen worden.

Ein Flugzeug hebt vom Flughafen Seiyun ab
Ein Flugzeug hebt vom Flughafen Seiyun ab IKRK/Abdellah Alhebshi

„Als die Maschine startete, war deutlich zu spüren, wie sich die Atmosphäre veränderte: Alle entspannten sich, denn sie wussten, dass die anderen auch gestartet waren und die Operation damit wirklich begonnen hatte", sagte sie.

„Wir mussten grosse logistische Probleme lösen, damit alles klappte. Zunächst mussten die Freigelassenen eine zehnstündige Busfahrt mit zahlreiche Sicherheitskontrollen auf dem Weg durchstehen, nur um den Flughafen zu erreichen."

„Als sie endlich dort ankamen und ihnen bewusst wurde, dass sie tatsächlich unterwegs nach Hause waren, fingen viele vor Freude an zu singen. Das war ein ganz besonderer Augenblick."

Ehemalige Häftlinge warten mit Hilfsgütern am Flughafen in Sana'a
Ehemalige Häftlinge warten mit Hilfsgütern am Flughafen in Sana'a IKRK/Osama Alansi

Nicht wenige waren verwundet; manche mussten auf Tragen ins Flugzeug gebracht werden.

Auf jedem Flugplatz überprüften IKRK-Mitarbeitende die Identität der früheren Häftlinge und versorgten sie mit Hygieneartikeln, Masken, Kleidung und Bargeldzuwendungen für die letzte Etappe der Heimreise nach dem Flug.

„Sie waren so froh, heimzukehren. Viele erzählten, sie wollten heiraten. Andere freuten sich auf das Essen, das ihr Mutter kochen würde", sagte Ben Youssef.

"Auch wenn wir nur für die Durchführung der Flüge verantwortlich gewesen sind, war dies weit mehr als ein Transporteinsatz."

„Einige dieser Menschen waren jahrelang von ihren Familien getrennt. Manche Familien wussten nicht, ob ihre Angehörigen tot oder am Leben waren. Mit dieser Repatriierung haben wir Familien zusammengeführt und dafür gesorgt, dass Verwundete medizinisch versorgt werden.

Vertrauen und Hoffnung

Zwei Tage lang beaufsichtigte das IKRK elf Flüge zwischen mehreren Städten im Jemen und Saudi-Arabien. Insgesamt 1056 ehemalige Häftlinge wurden zurück in ihre Heimat gebracht.

Es handelt sich nicht nur um die grösste Operation dieser Art im Jemen-Konflikt, sondern auch um den grössten derartigen Einsatz des IKRK seit Mai 1953 während des Koreakriegs.

Es steht zu hoffen, dass diese Operation der Beginn einer Entwicklung ist, die das Leben der Menschen im Jemen einfacher macht.

„Nachdem alles vorüber war, sass ich in meinem Zimmer und hörte den Kindern zu, die draussen auf der Strasse spielten", sagte Carboni.

„Diese Freilassung wird den Konflikt nicht wesentlich verändern, aber ich bin überzeugt, dass sie uns Hoffnung gibt. Sie zeigt uns, was mit politischem Willen und Kompromissbereitschaft möglich ist. Sie hilft, Vertrauen und Zuversicht zwischen den Parteien aufzubauen, und dies wird hoffentlich zu weiteren Gesprächen führen.

„Nur die Konfliktbeteiligten können dauerhafte positive Veränderungen herbeiführen. Nur eine politische Lösung kann das Leiden beenden und diesen Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen."