Neutralität im Krieg – ein Rettungsanker über Frontlinien hinweg

In den unberechenbarsten Konflikten unserer Zeit – vom Mittleren Osten über Osteuropa bis Zentralafrika – zahlen Zivilpersonen fast ausnahmslos den höchsten Preis. Konflikt bedeutet für Zivilpersonen Verlust. Verlust von Angehörigen, Verlust ihres Zuhauses, Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung und den grundlegendsten Alltagsgütern und allzu oft auch Verlust von Leben.
Zivilpersonen, deren Leben durch einen Konflikt zerstört wurde, ist es egal, wer recht und wer unrecht hat. Sie benötigen heute, morgen und an den kommenden Tagen Hilfe und es sind diese Menschen, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) erreichen möchte.
Wie Neutralität Leben rettet und humanitäre Korridore öffnet
Im Chaos und in der Komplexität der modernen Kriegsführung, wo Frontlinien verschwimmen, Fakten bestritten werden und Zivilpersonen leiden, spielen wir eine wichtige Rolle: jene des neutralen humanitären Vermittlers. Dank eines bedeutsamen Dialogs mit allen Konfliktparteien können wir Vertrauen aufbauen, um letztendlich Menschen zu erreichen, die in der Gewalt eingesperrt sind.
In Konfliktgebieten wie in der Ukraine, Gaza, der Demokratischen Republik Kongo (DRK) und Kolumbien ist diese Rolle entscheidend – und oft der einzige Weg – um Hilfe zu den betroffenen Menschen zu bringen.
Neutralität bedeutet nicht Schweigen. Sie ist eines der mächtigsten Instrumente, die wir haben, um Notleidende zu erreichen – nicht durch das Ergreifen von Partei, sondern durch Präsenz, Vertrauen und Wirksamkeit.

Ukraine: Über Frontlinien hinweg
Seit der Eskalation des internationalen bewaffneten Konflikts zwischen Russland und der Ukraine 2022 führt das IKRK auf beiden Seiten der Frontlinie humanitäre Einsätze durch.
Unsere Neutralität ermöglicht es uns, mit den russischen und den ukrainischen Behörden zu sprechen, um Evakuierungen zu organisieren, die Zusammenführung von Familien zu unterstützen und einen würdevollen Umgang mit Verstorbenen zu ermöglichen.
Über unseren Zentralen Such- und Schutzdienst sammeln und übermitteln wir Informationen über das Schicksal und den Verbleib von Menschen, die durch den Konflikt getrennt wurden. Zudem ermöglichen wir den Austausch von Nachrichten zwischen Angehörigen und geben so tausenden Familien Antworten und werfen ihnen einen Rettungsanker zu.
Diese Arbeit ist logistisch komplex und politisch heikel. Doch gerade unsere Fähigkeit, unparteiisch mit allen Seiten zusammenzuarbeiten, ermöglicht es uns, für die Menschen, die uns brauchen, vor Ort zu sein.
Erfahren Sie mehr über unsere Aktivitäten in Russland und der Ukraine.

Israel und die besetzten Gebiete: Heimkehr erleichtern
Im Gaza-Konflikt geht das menschliche Leiden weiter. Für seine Bemühungen, dieses Leid zu lindern, hat sich die neutrale Rolle des IKRK als entscheidend erwiesen. Neben der Bereitstellung wichtiger medizinischer Versorgung und der Beteiligung an Gemeinschaftsküchen trugen wir dieses Jahr zur Aushandlung eines mehrstufigen Abkommens bei, das die sichere Freilassung und den Transfer von Geiseln aus Gaza und Gefangenen aus Israel ermöglichte.
Diese Einsätze erforderten eine ausserordentliche Koordination, Diskretion und Mut, da die Teams dabei mit zerstörter Infrastruktur, der Gefahr von Blindgängern, grossen Menschenmengen und angespannten Stimmungslagen umgehen mussten.
Wir rufen weiterhin zur Freilassung aller Geiseln auf und fordern den Zugang zu ihnen sowie besseren humanitären Zugang und den Einlass humanitärer Hilfe für die verzweifelten Menschen in Gaza.
Erfahren Sie mehr über unsere Einsätze in Israel und den besetzten Gebieten.
Israel und die besetzten Gebiete: Heimkehr erleichtern
- Israel and the occupied territories: ICRC helps facilitate release of three hostages and 90 detainees, bringing hope and relief to families
- Israel and the occupied territories: ICRC completes second phase of release operations, reuniting more families
- Israel and the occupied territories: More families reunited as ICRC completes third stage of release operations
- Israel and the occupied territories: More hostages and detainees returned home in fourth phase of release operations
- Israel and the occupied territories: ICRC facilitates release of three hostages and 174 detainees
- ICRC facilitates safe transfer of three hostages and 343 detainees, and calls for dignified conditions in ongoing release operations
- Israel and the occupied territories: ICRC facilitates vital operation to allow families to bury their loved ones

DRK: Demobilisierung und Wiedereingliederung ermöglichen
In der Demokratischen Republik Kongo begleitete und transportierte das IKRK jüngst hunderte entwaffneter Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte und der nationalen Polizei und ihre Familien von Goma nach Kinshasa. Diese Operation, bei der beinahe 2 000 Kilometer zurückgelegt und mehrere Konfliktzonen durchquert wurden, war möglich, da alle Seiten darauf vertrauten, dass das IKRK vorurteilslos handelt.
Unsere Teams gewährleisteten, dass diese Personen sicher, menschenwürdig und freiwillig transportiert wurden. Gleichzeitig wurde zu weiteren humanitären Vereinbarungen aufgerufen, um die Spannungen zu verringern und das Leid der Menschen im Osten der DRK zu lindern. Diese für die Öffentlichkeit grösstenteils unsichtbaren Operationen sind entscheidend, um Raum für die Friedensförderung zu schaffen und das menschliche Leid zu lindern.
Da sich die humanitäre Lage in der DRK verschlechtert hat und Familien zur Flucht über die Grenzen gezwungen wurden, ist die Zahl der von ihren Angehörigen getrennten Menschen gestiegen, wobei Kinder besonders gefährdet sind. Als Reaktion darauf stellen Freiwillige der nationalen Gesellschaften in der DRK, Burundi, Uganda und Ruanda mit Unterstützung des IKRK Telefon- und Internetdienste bereit, und ermöglichen es so hunderten Vertriebenen und Geflüchteten, wieder Kontakt mit ihren Familien aufzunehmen.

Kolumbien: Vertrauen aufbauen, um humanitären Zugang zu ermöglichen
Die Rolle des IKRK als neutraler Vermittler ist nicht neu. In Kolumbien ist Neutralität seit Jahrzehnten ein Eckpfeiler unserer Arbeit. Im Verlaufe der langjährigen bewaffneten Konflikte im Land besuchte das IKRK Menschen, die von bewaffneten Gruppierungen festgehalten wurden, trug dazu bei, das Schicksal von Vermissten aufzuklären, bemühte sich darum, würdige Bedingungen für Gefangene zu erreichen und unterstützte die sichere Demobilisierung der Kämpfer.
Wir unterhalten einen neutralen Dialog mit allen Konfliktparteien und sind oft die einzige Organisation, der diese die Durchführung humanitärer Einsätze in bestimmten Gebieten anvertrauen. Unsere Neutralität ermöglicht es uns, abgelegene Gemeinschaften mitten in Konfliktgebieten zu erreichen, lebensrettende medizinische Versorgung bereitzustellen und die Verletzten zu evakuieren.
Neutralität ist nicht Gleichgültigkeit. Sie ermöglicht es uns, Gemeinschaften mit Behörden in Verbindung zu bringen, als Brückenbauer zu agieren, wo der Dialog fragil oder abgebrochen ist, und zur Stärkung staatlicher Massnahmen beizutragen, damit die Betroffenen von bewaffneten Konflikten nachhaltige, gerechte und langfristige Unterstützung erhalten – ungeachtet dessen, wie abgelegen sie leben.
Die Macht der Neutralität in der humanitären Arbeit
Für das IKRK ist Neutralität keine Theorie, sondern tägliche Praxis. Sie bedeutet, dass wir nicht Partei ergreifen, sondern entschieden für die Rechte der einzelnen von Konflikten betroffenen Personen einstehen. Sie ermöglicht es uns, an Tischen Platz zu nehmen, zu denen andere keinen Zugang haben, Orte zu erreichen, die für andere unerreichbar sind, und Hilfe zu leisten, wo andere dies nicht tun können oder nicht willkommen sind.
Weil wir nicht Partei ergreifen, können wir:
- die Freilassung und den Transfer von Gefangenen und Geiseln erleichtern;
- sichere Evakuierungen und Familienzusammenführungen unterstützen;
- als vertrauenswürdige Vermittler für Staaten und nicht staatliche bewaffnete Gruppen handeln;
- das Schicksal von Vermissten aufklären;
- über Frontlinien und Grenzen hinweg humanitäre Hilfe leisten.
Ein grosser Teil der Arbeit, die dies ermöglicht, findet hinter den Kulissen, bei stillen Verhandlungen statt. Diese Diskretion ermöglicht Präsenz, Vertrauen und Wirksamkeit.
Während die bewaffneten Konflikte immer komplexer und politischer werden, wird das Konzept der Neutralität immer stärker kritisiert, doch wir halten daran fest. Sie ermöglicht es uns, Brücken zu bauen und Menschen auf allen Seiten der Frontlinie zu helfen. Denn letztendlich ist das Ziel klar: Wir möchten jene erreichen, die Hilfe benötigen, wo immer sie auch sein mögen.