Myanmar: Träume verwirklichen und Behinderungen überwinden
Kachin ist der nördlichste Bundesstaat Myanmars, an der Grenze zu Indien und China. Es ist eine wunderschöne Region, bekannt für ihre kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt. Doch in jüngerer Zeit wurden die Landschaft und die Vielfalt von gewaltsamen Auseinandersetzungen überschattet, in deren Folge Tausende Familien ihre Heimat verlassen mussten.
Was früher selbstverständlich war – ausreichend Nahrung, Schulbesuch für die Kinder, sauberes Trinkwasser –, ist heute zu einer ständigen Herausforderung geworden. Die Menschen, die von dieser Gewalt betroffen sind, mussten lernen, resilient zu werden.
San Htoi Mun gehört zu den vielen, die infolge des Konflikts ihr Zuhause verlassen mussten. Der 17-Jährige lebt derzeit im Flüchtlingslager Sar Maw in Moegaung im Bundesstaat Kachin. Er träumt von einer besseren Zukunft und will mehr, als einfach nur überleben. „Ich wollte schon immer Dinge gestalten und schöne Kleider für die Menschen entwerfen. Ich habe viele Träume für mich und meine Familie. Einer davon ist, ein erfolgreicher Designer zu werden", erzählt er.
Doch bevor er seine Träume verwirklichen konnte, musste San Htoi Mun überleben. Deshalb begann er, in einem Restaurant zu arbeiten. „Eines Tages erzählte mir meine Tante, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Myitkyina Nähkurse für Flüchtlinge anbieten würde. Ich konnte es kaum erwarten, bis mein Kurs begann, denn ich wusste, das war meine Chance, meine Träume zu verwirklichen", verrät er.
Gegen Vorurteile ankämpfen
Da er der einzige Junge war, der sich für den Schneiderkurs anmeldete, befürchtete San Htoi Mun, seine Freunde und Nachbarn könnten ihn verspotten. Oft fragte er sich: „Ist es ein Problem, wenn ein 17-jähriger Junge Schönheit als wichtig empfindet?" Trotz aller Bemerkungen unterstützte seine Familie ihn bei seiner Wahl. „Manchmal, wenn meine Freunde mir gegenüber Vorurteile haben, überlege ich mir, wie man die Menschen für Gender-Stereotypen in der Gesellschaft sensibilisieren kann", erklärt er.
Im Schneiderkurs ist die Stimmung jedoch gut und er fühlt sich willkommen. „Alle behandeln einander mit Respekt und Zuneigung. Jetzt kann ich schöne Alltagskleider für Frauen nähen", berichtet er.
„Ich wollte schon immer Dinge gestalten und schöne Kleider für die Menschen entwerfen. Ich habe viele Träume für mich und meine Familie. Einer davon ist, ein erfolgreicher Designer zu werden“
Der Traum vom „Zentimeter"
Daw Byar Aye Mee nimmt ebenfalls am Schneiderkurs in Myitkyina teil. Die Mutter von vier Kindern hat bei einem Unfall ein Bein verloren. Es war eine der schlimmsten Zeiten ihres Lebens, doch nun versucht sie, ihre Familie nach besten Kräften zu unterstützen.
„Nach dem Unfall ging es mir miserabel, weil ich nicht akzeptieren konnte, wie schlecht es mir im Leben ergangen war. Aber meine Familie stand an meiner Seite und ging mit mir durch dick und dünn. Sie ermutigte mich, damit ich wieder gesund würde und das Schlimmste überstand", berichtet sie.
Daw Byar Aye Mee erhielt eine Beinprothese und physiotherapeutische Betreuung im Zentrum des IKRK für physische Rehabilitation in Myitkyina, und sie lernte wieder laufen. Mithilfe der Schneiderkenntnisse möchte sie noch mehr erreichen.
„Ich bin so froh, dass ich mich für den Schneiderkurs angemeldet habe, denn ich hatte bereits Grundkenntnisse im Nähen und kann nun darauf aufbauen und daraus einen Beruf machen", erzählt sie. „Ich kann Kleider nähen, die auf dem Markt sehr gefragt sind, zum Beispiel drei- und vierlagige Longyi."
Daw Byar Aye Mee möchte später ihr eigenes Nähatelier eröffnen. „Ich werde es ‚Zentimeter' nennen", erklärt sie lächelnd.
Daw Byar Aye Mee erhielt eine Beinprothese und physiotherapeutische Betreuung im Zentrum des IKRK für physische Rehabilitation in Myitkyina, und sie lernte wieder laufen. Mithilfe der Schneiderkenntnisse möchte sie noch mehr erreichen.</h2>
Nachhaltige Lösungen ermöglichen eine neue Zukunft
San Htoi Mun und Daw Byar Aye Mee sind nur zwei von zahlreichen Personen, die in äusserster Not Hilfe erhalten haben. Sie werden angetrieben von der Motivation, die eigenen Träume zu verwirklichen oder neue zu entwickeln, selbst inmitten grösster Not.
„Ich habe an meinem Wunsch, Designer zu werden, festgehalten, trotz aller Hindernisse. Ich werde das auch weiterhin tun", bekräftigt San Htoi Mun. Daw Byar Aye Mee ergänzt, dass sie als Frau mit einer Behinderung sich auch in Zukunft dafür einsetzen werde, dass Menschen wie sie in der Gesellschaft gleiche Chancen erhalten.
Thalie Bareilles, Leiterin des IKRK-Büros in Myitkyina, erklärt, dass humanitäre Hilfe in akuten Notsituationen stattfinden kann, durch die Verteilung von Nahrungsmitteln oder durch überlebenswichtige Gesundheitsversorgung, insbesondere, wenn es um Leben und Tod geht - Aber nicht nur.
„Humanitäre Hilfe bedeutet auch, nachhaltige Unterstützung zu leisten und den Menschen ein neues Leben zu ermöglichen."
- Thalie Bareilles
Das IKRK bietet Berufsbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen und Menschen in Flüchtlingslagern im Bundesstaat Kachin an und fördert dadurch ihre sozioökonomische Integration. Zugang zu diesen Angeboten erhalten auch Personen, die in ihre Heimat zurückgekehrt sind oder sich an einem neuen Ort niedergelassen haben. Durch das Nähprogramm leisten wir langfristige Existenzhilfe, damit die Menschen ein regelmässiges Einkommen erwirtschaften und ihr Leben neu aufbauen können.