Damaskus/Genf (IKRK) – Nach bald zehn Konfliktjahren stürzen eine sich dramatisch verschlechternde Wirtschaftslage, die Auswirkungen erweiterter Sanktionen, die drohende COVID-19-Krise und anhaltende Kämpfe in Teilen des Landes Millionen von Menschen in Syrien in noch grössere Armut und Hungersnot.
Die landesweiten humanitären Bedürfnisse sind bereits riesig und steigen weiter so rasant, dass die vorhandenen Kapazitäten an ihre Grenzen zu stossen oder gar überlastet zu werden drohen, was durch die schlimmste Wirtschaftskrise seit Beginn des Konflikts weiter verschärft wird.
„Die vergangenen Monate waren für die Syrerinnen und Syrer zusätzlich zum seit fast zehn Jahren anhaltenden brutalen und unerbittlichen Konflikt ein wirtschaftlicher Albtraum. Laut zurückhaltenden Schätzungen werden Hunderttausende weitere Menschen in Armut und Hunger getrieben. Das IKRK wird seine Hilfe gemeinsam mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond aufstocken, unter anderem für die bedürftigsten Gruppen", so Philip Spoerri, Leiter der Delegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Damaskus, Syrien.
Die monatelange Finanzkrise im Nachbarland Libanon und die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie sowie die Massnahmen zu deren Eindämmung haben dazu geführt, dass die Preise gestiegen und die Syrische Lira an Wert verloren hat, was einen zerstörerischen Dominoeffekt betreffend die Arbeit und die Einnahmen der Menschen ausgelöst hat. Beinahe 90 % der kürzlich vom IKRK kontaktierten Haushalte hatten in den vergangenen Monaten Arbeits- oder Einnahmeausfälle zu beklagen, wobei 70 % von ihnen über keinerlei Ersparnisse verfügen, um über die Runden zu kommen.
Die Wirtschaftskrise vergrössert die bereits bestehenden enormen humanitären Bedürfnisse im ganzen Land weiter, darunter aktive Frontlinien mit täglich zivilen Opfern, Zehntausende Inhaftierter, Vermisster oder Verschwundener, auseinandergerissene Familien, in Lagern gestrandete Frauen und Kinder, zerstörte Städte, Schulen und Spitäler und eine durch wiederholte Massenvertreibungen und den permanenten Kampf ums Überleben erschöpfte Bevölkerung.
Mehr denn je benötigen die Menschen im ganzen Land unparteiische humanitäre Hilfe, die auf einer Beurteilung der Bedürfnisse vor Ort beruht und unabhängig bereitgestellt wird.
„Wir benötigen dringend dauerhaften, unpolitischen Zugang seitens aller Konfliktbeteiligten; das Fehlen dieses Zugangs kostet täglich Menschenleben", sagte Fabrizio Carboni, IKRK-Regionaldirektor für den Nahen und den Mittleren Osten.
„Idlib ist ein Beispiel für eine akute, anhaltende Krisenregion, wo das IKRK Zugang benötigt, um die Massnahmen gemeinsam mit den Partnern der Bewegung verstärken zu können. Die syrische Bevölkerung darf nicht zu einer Geisel politischer Unstimmigkeiten und tödlicher Verzögerungen bei der Bereitstellung lebensrettender Hilfe werden", fügte er hinzu.
Wie Millionen von Menschen im ganzen Land wird davon ausgegangen, dass die Hälfte der schätzungsweise vier Millionen Menschen in der Region Idlib in den vergangenen Jahren vertrieben wurden, viele von ihnen mehrere Male. In ganz Syrien beträgt die Zahl der Vertriebenen mindestens sechs Millionen. Viele weitere Millionen leben in benachbarten Ländern oder weiter entfernt.
Das Schicksal und die Zukunft von Rückkehrern geben Anlass zu grosser Sorge. Rund 500 000 Menschen von innerhalb und ausserhalb Syriens sind in den vergangenen zwölf Monaten in ihre Häuser zurückgekehrt, wo sie mit enormen Herausforderungen und Gefahren wie waffen-kontaminiertem Land und zerstörter Infrastruktur konfrontiert sind und versuchen, unter diesen Bedingungen ihr Leben und ihre Gemeinschaften wieder aufzubauen. Ihnen muss im Rahmen einer breiteren Unterstützung für einen nachhaltigen Wiederaufbau des ganzen Landes geholfen werden.
Das Schicksal jener, deren Familien immer noch auf ihre Rückkehr warten, ist ein anderes heikles Problem in Syrien. Für die Zehntausenden Familien, die Angehörige vermissen, ist der Wiederaufbau einer Existenz besonders schwierig. Neben der Ungewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen müssen die Familien auch mit zusätzlichen wirtschaftlichen, administrativen, rechtlichen, psychologischen und psychosozialen Bedürfnissen zurechtkommen.
Nur eine entschlossene Reaktion seitens der internationalen Gemeinschaft, der Konfliktparteien und humanitärer Organisationen kann die Bedürfnisse der Familien, darunter ihr Recht darauf zu wissen, was mit ihren Angehörigen geschehen ist, erfüllen.
Zusammen mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond und den Partnern der Bewegung wird das IKRK seine Massnahmen in Syrien in den kommenden Monaten verstärken, benachteiligte Gruppen im Zusammenhang mit den schlimmsten Folgen der Wirtschaftskrise unterstützen und seine lebensrettenden zentralen Aufgaben aufrechterhalten und verstärken. Dazu gehören dringende Reparaturen an wichtiger Wasserinfrastruktur, die Verteilung von Essen und täglich warmen Mahlzeiten an hilfsbedürftige Menschen und die Unterstützung der Gesundheitseinrichtungen in Gemeinden und Lagern.
Aktuelle Informationen zur Arbeit des IKRK in Syrien: Syrien im Fokus.
Aktuelles Bildmaterial und die Ergebnisse der ökonomischen Wirkungsstudie des IKRK sind im IKRK-Newsroom zu finden.
Anmerkung für die Redakteure:
1. Im Mai befragte die IKRK-Abteilung wirtschaftliche Sicherheit in Syrien 125 vom IKRK unterstützte Haushalte, die insgesamt 875 Personen umfassen, zu den ökonomischen Auswirkungen von COVID-19. Marktpreisüberwachungen wurden im März und April durchgeführt.
2. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist eine neutrale und unabhängige Organisation, deren Auftrag darin besteht, Opfer bewaffneter Konflikte und sonstiger Gewaltsituationen zu schützen und ihnen Hilfe zu leisten. Es handelt in Notsituationen und fördert die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und dessen Umsetzung auf nationaler Ebene.
Weitere Auskunft erteilen:
Adnan Hezam, IKRK Syrien, nur per Whatsapp, Tel.: +963 930 336 718, ahezam@icrc.org
Sara Alzawqari, Sprecherin des IKRK für den Mittleren Osten, Tel.:+961 3138 353, salzawqari@icrc.org
Ruth Hetherington, Sprecherin des IKRK für den Mittleren Osten, Tel.:+41 79 447 3726, rhetherington@icrc.org
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Was das IKRK unternimmt, um den Angriffen auf Gesundheitspersonal und Patienten ein Ende zu setzen: www.healthcareindanger.org