Medienmitteilung

Ukraine: Die Menschen zahlen einen immer höheren Preis – die Konfliktparteien müssen das humanitäre Völkerrecht einhalten

Erklärung von IKRK-Präsident Peter Maurer

Genf (IKRK) – In der Ukraine müssen wir aktuell mitansehen, wie eine verheerende humanitäre Krise entsteht und sich verschärft. Das IKRK erinnert die Konfliktparteien dringend daran, ihren rechtlichen Pflichten nachzukommen, um weiteres Leid in der Zivilbevölkerung und zusätzliche zivile Opfer zu vermeiden.

Die Genfer Konventionen und ihr erstes Zusatzprotokoll kommen im internationalen bewaffneten Konflikt in der Ukraine in vollem Umfang zur Anwendung. Daher müssen die Parteien dieses Konflikts die Regeln zum Schutz der Menschen während eines Konflikts, zu denen sie sich verpflichtet haben, auch einhalten. Dies bedeutet, dass sie die Zivilbevölkerung bei militärischen Operationen verschonen müssen. Sie sollten zudem unverzüglich ein sicheres Geleit für Menschen ermöglichen, die vor den Kämpfen fliehen.

Um das Leid zu lindern und die Bevölkerung zu schützen, ist das IKRK entschlossen, in der Ukraine den Auftrag zu erfüllen, den ihm die Nationen dieser Welt vor sieben Jahrzehnten im Rahmen der Genfer Konventionen erteilt haben. Diese Arbeit muss jetzt erleichtert werden – denn die Kampfhandlungen führen aktuell zu einem immensen Bedarf an humanitärer Hilfe –, sie darf nicht bis zu einem allfälligen Waffenstillstand aufgeschoben werden. Die Konfliktparteien sind verpflichtet, diese Hilfstätigkeit zu ermöglichen, auch wenn der Konflikt weiterhin anhält.

Unsere heutige Forderung könnte dringender nicht sein. Die Teams des IKRK erhalten unzählige Anrufe von Menschen, die verzweifelt nach Sicherheit suchen.

Die Zahl der Toten und Verletzten nimmt immer weiter zu, und die Gesundheitseinrichtungen können den Ansturm nur schwer bewältigen. Zivilpersonen, die in unterirdischen Schutzunterkünften ausharren, berichten uns, dass sie vor direktem Beschuss über ihren Köpfen geflohen sind.

Sie haben weder Kleidung noch Vorräte oder Medikamente dabei. Sie benötigen sofort Hilfe.

Mich berührt der enorme Mut und der grosse Einsatz der humanitären Freiwilligen des Ukrainischen Roten Kreuzes. Das IKRK und die breitere Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung sind in der Ukraine und in den umliegenden Ländern im Einsatz. Unsere Mitarbeitenden sind bereit und entschlossen, Gefangene zu besuchen, getrennte Familien zu vereinen, Gesundheitseinrichtungen zu unterstützen und die bereits vorhandene lebenswichtige Hilfe aufzustocken.

Vor fast 75 Jahren einigten sich die Länder dieser Welt auf die wichtigsten Grundsätze der Menschlichkeit in bewaffneten Konflikten. Heute möchten wir an diese Regeln erinnern:

Das humanitäre Völkerrecht und der Schutz der Zivilbevölkerung

Das IKRK ist besorgt über Kampfhandlungen in städtischen Gebieten, die für die Zivilbevölkerung besonders gefährlich sind.

Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte, unterschiedslose Angriffe und unverhältnismässige Angriffe sind verboten. Die Konfliktparteien müssen alle praktisch möglichen Vorsichtsmassnahmen treffen, um Tote und Verwundete in der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Sie müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Anlage militärischer Ziele in oder in der Nähe dicht besiedelter Gebiete zu verhindern, und sie müssen die Zivilbevölkerung vor den Folgen von Angriffen schützen. Falls sie dies wünschen, sollte Zivilpersonen erlaubt werden, ihren Aufenthaltsort auf der Suche nach Sicherheit zu verlassen.

Zivile Infrastruktur

Zivile Infrastruktur wie Spitäler, Schulen, Wasser- und Elektrizitätswerke müssen zwingend aktiv geschützt werden. Sie dürfen nicht Ziel von Angriffen sein, weder physischer Natur noch in Form von Cyberangriffen. Der Einsatz verbotener Waffen und die unrechtmässige Verwendung von Waffen sind untersagt. Auf den Einsatz von schweren Explosionswaffen in besiedelten Gebieten sollte verzichtet werden, da damit eine hohes Risiko unterschiedsloser Folgen verbunden ist.

Um Zivilpersonen zu schützen, müssen Kombattanten sich in allen militärischen Einsätzen von der Zivilbevölkerung unterscheiden, indem sie erkennbare Abzeichen tragen und ihre Waffen offen zeigen. Sie müssen das humanitäre Völkerrecht befolgen.

Zugang zu medizinischer Versorgung, Sicherheit von medizinischem Personal, Rückgabe sterblicher Überreste

Kranke und Verwundete müssen versorgt werden, unabhängig davon, auf welcher Seite sie stehen. Medizinisches Personal, medizinische Fahrzeuge und Spitäler, die sich der humanitären Arbeit widmen, dürfen nicht angegriffen werden. Die Konfliktparteien müssen überdies die Bergung, die Identifizierung und den würdevollen Umgang mit Verstorbenen fördern und die Rückgabe der sterblichen Überreste auf Antrag der Seite, zu der sie gehören, erleichtern. Das IKRK kann in diesen Fällen als neutraler Vermittler auftreten.

Geschützte Personen, einschliesslich Kriegsgefangene und Häftlinge

Jede Konfliktpartei muss die notwendigen Massnahmen ergreifen, um die Verantwortung für geschützte Personen unter ihrer Kontrolle wahrzunehmen: verwundete, kranke und verstorbene Militärangehörige, Kriegsgefangene und geschützte Zivilpersonen, denen die Freiheit entzogen wurde. Sie muss die erforderlichen Informationen sammeln, zusammenführen und an die andere Seite übermitteln, und zwar über den Zentralen Suchdienst des IKRK, der als neutraler Vermittler agiert.

Kriegsgefangene und inhaftierte Zivilpersonen müssen mit Würde behandelt werden. Sie sind unbeschränkt vor Misshandlung und Exposition gegenüber öffentlicher Neugierde, inklusive Bildern, die öffentlich in den sozialen Medien zirkulieren, zu schützen. Die Genfer Konventionen von 1949 sichern dem IKRK Zugang zu Gefangenen – sowohl Kriegsgefangenen wie Zivilpersonen – zu.

Sicherer Zugang für humanitäre Hilfe

Alle Parteien und alle Staaten müssen die Arbeit von unparteiischen humanitären Organisationen wie dem Roten Kreuz und dem Roten Halbmond erlauben und erleichtern. Unsere Arbeit besteht darin, Leben zu retten. Sanktionen und andere einschränkende Massnahmen müssen so gestaltet sein, dass humanitäre Hilfe weiterhin unbeschränkt möglich ist. 

Weitere Informationen:

Jason Straziuso, IKRK Genf
Tel.: +41 79 949 35 12 jstraziuso@icrc.org

Ewan Watson, IKRK Genf
Tel.: +41 79 244 64 70 ewatson@icrc.org 

Crystal Wells, IKRK Genf
Tel.: +41 79 642 80 56 cwells@icrc.org