Artikel

Kolumbien: „Die meisten Menschen in Kolumbien werden gegen ihren Willen in den Konflikt hineingezogen“

Rural, Afro-descendant and indigenous communities are particularly affected by the armed conflict. ICRC

Patrick Hamilton leitet die Einsätze des IKRK in Kolumbien und hat 20 Jahre Erfahrung im Schutz von Menschen in bewaffneten Konflikten. Hier erklärt er, mit welchen Herausforderungen die Zivilbevölkerung im Land in einem zunehmend schwierigen und komplexen Umfeld konfrontiert ist.

Wie hat sich die humanitäre Lage in Kolumbien in den letzten Jahren verändert?

2024 war unserer Einschätzung nach das schlimmste Jahr seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von 2016. Die Intensivierung der Kampfhandlungen führte zu einem rasanten Anstieg der Zahl der Menschen, die von verschiedenen negativen Folgen betroffen waren. Die Zahl der Opfer explosiver Kampfmittel stieg im Vergleich zu 2023 um fast 90 %, und mehr als 100 000 Menschen waren von Ausgangssperren oder starken Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit betroffen. Gleichzeitig mussten 2024 über 260 000 Personen ihr Zuhause verlassen. Damit verzeichnet Kolumbien heute mehr als 5 Millionen Binnenvertriebene. Die Folgen sind real und weitreichend. Häufig verändern sie das Leben der Betroffenen für immer.

In some regions, people have to live with the constant threat of explosive devices. They can no longer move around freely, fish, hunt or grow crops. ICRC
In einigen Regionen müssen die Bewohnerinnen und Bewohner ständig mit der Gefahr durch Sprengkörper rechnen. Ihre Bewegungsfreiheit sowie ihre Möglichkeiten zu fischen, zu jagen und Ackerland zu nutzen, sind stark eingeschränkt. Es kommt deutlich häufiger zu Vorfällen, die zum Tod oder zu Verstümmelungen führen. Yohaysa Perea/IKRK
In einigen Regionen müssen die Bewohnerinnen und Bewohner ständig mit der Gefahr durch Sprengkörper rechnen. Ihre Bewegungsfreiheit sowie ihre Möglichkeiten zu fischen, zu jagen und Ackerland zu nutzen, sind stark eingeschränkt. Es kommt deutlich häufiger zu Vorfällen, die zum Tod oder zu Verstümmelungen führen. Yohaysa Perea/IKRK

Wovor müssen die Menschen konkret geschützt werden?

Die Bevölkerung in Kolumbien gerät ständig zwischen die Fronten bei Auseinandersetzungen der regulären Armee mit bewaffneten Gruppen oder bei Auseinandersetzungen unter den bewaffneten Gruppen. Im ganzen Land werden Menschen gegen ihren Willen in den Konflikt hineingezogen. Ganze Gemeinschaften berichten uns, dass sie zunehmend Angst haben und sich verletzlich fühlen. Die Parteien müssen eindeutig viel mehr tun, um das humanitäre Völkerrecht (HVR) einzuhalten.

Durch unseren Dialog mit den Menschen und den Waffentragenden haben wir kritische, lebensbedrohliche Risiken ermittelt, vor denen die Menschen geschützt werden müssen, zum Beispiel Zwangsrekrutierung, Ausbeutung von Kindern und jungen Menschen. Ein weiteres grosses Risiko ist die schwere Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die den Zugang zu Nahrung, Einkommensquellen, medizinischer Versorgung und Bildung abschneidet. Ausserdem die verbreitete sexuelle Gewalt, gezielte Tötung von Gemeinschaftsmitgliedern und das Verschwinden von Menschen.

Der beunruhigendste Trend in diesem Konflikt ist zweifellos die gefährliche Stigmatisierung von Personen, die an Orten leben, an denen die Waffentragenden um die Gebietshoheit kämpfen. Sie werden von Letzteren immer wieder beschuldigt, die eine oder andere Konfliktpartei zu unterstützen oder ihr anzugehören, nur, weil sie auf ihrem Land bleiben und inmitten der Kämpfe überleben wollen.

It can take our teams days to reach areas affected by armed clashes. ICRC
Es kommt vor, dass unsere Teams mehrere Tage benötigen, bis sie Orte erreichen, an denen es zu bewaffneten Zusammenstössen gekommen ist. Juan Sebastián López Insuasty/IKRK
Es kommt vor, dass unsere Teams mehrere Tage benötigen, bis sie Orte erreichen, an denen es zu bewaffneten Zusammenstössen gekommen ist. Juan Sebastián López Insuasty/IKRK

Welche Gemeinschaften sind besonders stark betroffen?

Nach unseren Erkenntnissen leben mehr als 75 % der Betroffenen auf dem Land und sind afrikanischer oder indigener Abstammung. Am stärksten betroffen sind Orte, die seit jeher weniger Zugang zu Ressourcen hatten und an denen der Staat seit Jahrzehnten nur eingeschränkt präsent ist. Dazu gehören die gesamte Pazifikküste, der Norden und Osten der Region Antioquia mit der Hauptstadt Medellín, der Nordosten an der Grenze zu Venezuela und der südliche Teil des Landes im kolumbianischen Amazonas.

Rural, Afro-descendant and indigenous communities are particularly affected by the armed conflict. ICRC
Ländliche, afro-stämmige und indigene Gemeinschaften sind besonders stark vom bewaffneten Konflikt betroffen. IKRK
Ländliche, afro-stämmige und indigene Gemeinschaften sind besonders stark vom bewaffneten Konflikt betroffen. IKRK

Was leistet das IKRK?

Drei Dinge unterscheiden uns von anderen Organisationen: Erstens erreichen wir die abgelegensten Landesteile – Orte, die keine andere Organisation erreichen kann. Dadurch können wir auf die Bedürfnisse der verletzlichsten Gruppen eingehen. Es ist entscheidend, dort zu sein, wo die Menschen uns am meisten brauchen. Auch wenn wir dafür tage- oder gar wochenlang auf Flüssen, zu Fuss durch dichten Dschungel oder stundenlang mit dem Auto auf ungeteerten Strassen unterwegs sind.

Zweitens ist unsere Arbeit darauf ausgerichtet, Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu verhindern und die Zivilbevölkerung zu schützen. Alles, was wir tun – sei es bei der Nothilfe oder den langfristigen Programmen – ist darauf ausgerichtet, die unmittelbaren Gefahren zu mildern und Gemeinschaften zu schützen, die im Teufelskreis von Gewalt und Vernachlässigung gefangen sind.

Nicht weniger wichtig schliesslich ist unser bilateraler und vertraulicher Dialog mit allen Parteien des bewaffneten Konflikts. Wir sprechen sie direkt und mit Nachdruck auf ihre Pflicht an, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Ziel ist, sie zu konkreten Verhaltensänderungen zu bewegen. Die Einhaltung des HVR ist nicht optional oder ein Zeichen des guten Willens. Sie ist eine dringende Pflicht.

An ICRC staff talks with an armed soldier in the middle of the road. ICRC

Weshalb ist es trotz des Friedensabkommens wichtig, anzuerkennen, dass in Kolumbien keine „normalen“ Umstände herrschen?

Mehr als 60 Jahre Konflikt haben in der gesamten kolumbianischen Gesellschaft Spuren hinterlassen. Im Vergleich zu anderen Konflikten auf der Welt mag vielleicht alles normal erscheinen, insbesondere in grossen Städten. Aber dem ist nicht so. Das Land erlebt acht aktive nicht-internationale bewaffnete Konflikte – da kann es keine Normalität geben. Die Gefahren bedrohen die Bevölkerung im Alltag gegenwärtig, insbesondere in den genannten Gebieten. Deshalb ist es wichtig, dass wir bei unserer Schutzarbeit zuerst den Menschen zuhören und ihre Anliegen und Lösungsvorschläge in den Dialog mit den Beteiligten einbringen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass nach so vielen Jahrzehnten des Leids für Tausende Menschen in Kolumbien eine andere Zukunft für sie möglich ist, für Hunderte Familien und Gemeinschaften, die es satt haben, im Schmerz zu leben.