„Eine Notlage inmitten der Notlage“ – Rotkreuzschwestern über Konflikt und Coronavirus

„Eine Notlage inmitten der Notlage“ – Rotkreuzschwestern über Konflikt und Coronavirus

Was bedeutet es heute, Pflegefachkraft zu sein? Anlässlich des Internationalen Tags der Pflege baten wir vier Krankenschwestern, uns zu berichten, welche Erfahrungen sie gemacht haben und wie sich Covid-19 auf ihre Arbeit auswirkt.

Natasha Moon, Oberschwester, Maiduguri, Nigeria

Wir sind eine Art Notfall in einer Notlage: Wir arbeiten in einem Konfliktgebiet und stehen nun zusätzlich vor einer schweren Krise der öffentlichen Gesundheit.

Ich arbeite im Hauptspital von Maiduguri in einem IKRK-Chirurgenteam mit in- und ausländischen Mitarbeitenden. Wir behandeln Menschen mit Verletzungen aus dem Konflikt, der seit mehr als zehn Jahren im Nordosten Nigerias wütet.

Es ist leider nicht so, dass die Kämpfe wegen des Coronavirus aufgehört hätten.

Nach wie vor kommt es nach jedem Angriff und jedem Aufflammen der Kämpfe zu einem Massenzustrom von Patienten. Neu ist jedoch unser Umgang mit solchen Situationen.

Wir haben Triage-Zelte aufgestellt und schulen das Personal in Präventionsmassnahmen. Wir mussten auch unsere Aufnahmekriterien ändern. In der Notfallstation nehmen wir nur noch Menschen auf, deren Leben in Gefahr ist oder bei denen ein Amputationsrisiko besteht.

Wir haben Massnahmen zur räumlichen Distanzierung getroffen und versucht, auf den Stationen Platz zu schaffen, um den Kontakt so gering wie möglich zu halten. Das ist leichter gesagt als getan. Ein Spital ist ein sehr betriebsamer Ort.

In Maiduguri leben rund 3,5 Millionen Menschen, darunter mehr als eine Million, die in der Stadt Zuflucht fanden, nachdem sie durch den Konflikt vertrieben worden waren.

Sie leben in überfüllten Lagern, die über die ganze Stadt verteilt sind, und in verschiedenen Gemeinden. Das Spital ist einer der wenigen Orte, an denen sie medizinische Versorgung erhalten.

Natasha Moon arbeitet im Hauptspital von Maiduguri - IKRK/Alyona Synenko

Wenn ich nicht beim IKRK bin, arbeite ich in einer Intensivstation des britischen Gesundheitsdienstes NHS. Ich denke, dass das, was wir hier tun, in mancher Hinsicht mit der Arbeit meiner NHS-Kollegen zu Hause vergleichbar ist.

Wir alle leisten unter schwierigen Umständen nach bestem Wissen und Gewissen Patientenpflege. Als Pflegefachkraft ist man besonders gefährdet. Man ist sich der Risiken bewusst, und man geht sie bereitwillig ein.

Das Coronavirus ist für jeden etwas Unbekanntes, deshalb ist es wichtiger denn je, dass wir für unsere Patienten da sind. Das gilt für Krankenschwestern sowohl in Maiduguri als auch in Grossbritannien.

Wenn ich zu Hause wäre, würde ich zur Arbeit mit meinem Team gehen, für die Patienten mein Bestes geben, meine Kollegen ermutigen und sie unterstützen. Das ist genau das, was wir hier tun.

Ein Kind wird in Maiduguri operiert. Im Nordosten Nigerias ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung schwierig - IKRK/Sam Smith
Ein Kind wird in Maiduguri operiert. Im Nordosten Nigerias ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung schwierig - IKRK/Sam Smith

Angela Neville, OP-Schwester, Südsudan

Als Pflegefachkraft tut man sein Bestes, um sich um Menschen zu kümmern, wenn sie am verletzlichsten sind. Das ändert sich nicht, ganz gleich, wo auf der Welt man arbeitet.

Das einzige, das sich ändert, sind die Entscheidungen, die man treffen muss.

Ich bin gerade zurück aus dem Südsudan, wo ich im Chirurgieteam im IKRK-Spital in einem abgelegenen Dorf im Zentrum des jüngsten Landes der Welt tätig war.

Das Dorf ist nur per Flugzeug oder Helikopter erreichbar. In der Regenzeit kann sogar der Helikopter wegen des Schlamms manchmal nicht landen, so dass man völlig abgeschnitten ist.

Im Südsudan bringt die Regenzeit einige Probleme mit sich - IKRK/Angela Neville

Leider haben Konflikte und interkommunale Gewalt die ersten Jahre der Unabhängigkeit des Landes überschattet. Wir behandeln Menschen, die unter den Auswirkungen dieser Gewalt leiden.

Man gewöhnt sich nie daran, Menschen mit Schussverletzungen zu behandeln – die Wunden, die wir sehen, sind so anders als alles, was wir aus unserem früheren Alltag kennen.

Nach einer Verschärfung der Kämpfe strömen Verwundete mit Schusswunden und anderen schweren Verletzungen ins Spital. Dann herrscht höchste Anspannung.

Es sind sehr rasch wesentliche Entscheidungen zu treffen. Bei den nur begrenzt verfügbaren Mitteln können solche Entscheidungen sehr schwierig sein. Manchmal fragt man sich später, ob es die richtige Entscheidung war, und man zweifelt an sich.

Ich weiss, dass meine Entscheidungen im Südsudan ganz anders sind als die, die ich in meinem früheren Londoner Spital treffen würde, denn ich richte mich allein nach den verfügbaren Hilfsmitteln.

Wir sind extrem besorgt angesichts der Folgen der Pandemie im Südsudan.

Das Gesundheitswesen ist völlig überfordert. Im ganzen Land gibt es nur vier Beatmungsgeräte. Der Südsudan verfügt einfach nicht über die Einrichtungen, das medizinische Material und das Personal, um mit Covid-19 fertigzuwerden.

Zudem ist zu bedenken, dass rund 1,5 Millionen Menschen durch den Konflikt aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie müssen um den Zugang zu sauberem Wasser, Seife, Nahrung und medizinischer Versorgung kämpfen.

Abgesehen von den medizinischen Faktoren gibt es noch andere Dinge, die das Leben einer Krankenschwester im Südsudan etwas interessanter machen. Zum Beispiel die Hitze – in der Trockenzeit steigen die Temperaturen auf mehr als 50 Grad.

Ausserdem müssen wir mit Schlangen und Skorpionen zurechtkommen. Bei einem meiner früheren Einsätze behandelten wir eine Patientin, die mit einem Schlangenbiss ins Spital gebracht worden war.

Sie lag auf dem Bett und zeigte plötzlich auf die Decke – direkt über ihr hing eine grüne Mamba! Das war auf jeden Fall ein interessanter Start in den Tag.

Wichtige Entscheidungen schnell treffen: Angela im Operationssaal - IKRK/Angela Neville
Wichtige Entscheidungen schnell treffen: Angela im Operationssaal - IKRK/Angela Neville

Frances Devlin, Gesundheitskoordinatorin, Damaskus, Syrien

Syrien befindet sich im zehnten Jahr des Konflikts. Bei den Kämpfen wurden zahllose Gesundheitseinrichtungen zerstört. Dies ist der Hauptgrund für den eingeschränkten Zugang der Menschen zur Gesundheitsversorgung. Wenn sich in einer solchen Situation eine Pandemie ausbreitet, wird alles noch viel schlimmer. Das ist höchst besorgniserregend.

Die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten ist in Syrien regional sehr unterschiedlich. In und um Idlib werden die Feindseligkeiten fortgesetzt, und daher gibt es hier einen akuten Bedarf und gleichzeitig einen Mangel an Gesundheitseinrichtungen.

Schätzungsweise 6,5 Millionen Menschen sind innerhalb Syriens vertrieben worden; sie leben gewöhnlich in Lagern oder Gemeinschaftsunterkünften.

Ein Beispiel ist das Lager Al Hol im Nordosten. Dort leben etwa 65 000 Menschen auf engstem Raum. Die Zelte beherbergen oft mehrere Familien, sodass es für die Menschen wirklich schwierig wäre, sich zu isolieren.

Zwei der jüngsten Bewohner von Al Hol - IKRK/Mari Aftret Mørtvedt

In Zusammenarbeit mit Partnern sind wir dabei, ein Isolationszentrum einzurichten. Dann können vermutete und bestätigte Fälle von Covid-19 ausserhalb der dicht besiedelten Teile des Lagers isoliert werden.

Doch selbst dann wird es für Menschen mit dem Virus schwierig sein, weiter medizinisch behandelt zu werden, denn es ist nicht leicht, das Lager zu verlassen und zum Spital in Hasaka zu gelangen.

Das IKRK unterstützt mehrere Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land mit medizinischem Material und Geräten. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Aktivitäten ist die Schulung des Personals.

Bei einer Krise im Gesundheitswesen ist es für die Sicherheit des Personals wie für das Wohl der Patienten von entscheidender Bedeutung, dass das Personal weiss, wie man persönliche Schutzausrüstung benutzt und wie man Patienten richtig einteilt.

Es handelt sich nur um Grundkenntnisse, doch in einem Land, in dem viele erfahrene medizinische Fachkräfte abgewandert sind, verfügen die Zurückgebliebenen nicht immer über die notwendigen Kenntnisse.

Die weltweite Reaktion der Menschen auf die Pandemie zeigt das immense Sympathiekapital der Pflegefachkräfte und des medizinischen Personals – in meiner Heimat Irland ebenso wie anderswo.

Man kann wirklich stolz darauf sein, zu diesem Berufsstand zu gehören. Krankenschwestern stehen jeden Tag an vorderster Front, und zwar nicht nur für Covid-19. Es ist schön zu sehen, dass sie endlich die Anerkennung bekommen, die sie verdienen.

Das IKRK betreibt gemeinsam mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond ein Feldlazarett in Al Hol - IKRK/Mari Aftret Mørtvedt
Das IKRK betreibt gemeinsam mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond ein Feldlazarett in Al Hol - IKRK/Mari Aftret Mørtvedt

Chrissy Alcock, Notfallschwester, Caracas, Venezuela

Ich war 2015 während der Ebola-Epidemie in Sierra Leone und 2018 in Bangladesch, um den Diphterie-Ausbruch unter den Flüchtlingen aus dem Bundesstaat Rakhaing zu bekämpfen. Es ist kaum möglich, diese Situationen mit dem zu vergleichen, was wir derzeit mit dem Coronavirus erleben.

Im Moment behandelt das Spital in Caracas, das vom IKRK unterstützt wird, noch nicht viele Coronavirus-Patienten, aber das bedeutet nicht, dass es in der Bevölkerung keine Fälle gibt.
Es ist sehr schwierig vorherzusagen, was passieren wird, deshalb müssen wir die Zeit nutzen, um uns auf ein Worst-Case-Szenario vorzubereiten. Ich gehöre zu einem Team, das dabei hilft, das Spital auf eine allfällige Welle von Covid-19-Erkrankungen vorzubereiten.

Wir schulen das Spitalpersonal im Umgang mit persönlicher Schutzausrüstung, prüfen das Triage-System des Spitals, überlegen, wie der Patientenfluss gesteuert werden kann, und bereiten medizinisches Material und Geräte vor. All dies geschieht zusätzlich zu den Routinetätigkeiten des Spitals.

Das Leben ist schwierig für die Menschen in Venezuela. Obgleich das Land über eine der grössten Ölreserven der Welt verfügt, ist die Hyperinflation so angestiegen, dass ein Grossteil der Bevölkerung keinen Zugang mehr zu Nahrung, ausreichender Gesundheitsversorgung und Beschäftigung hat.

Teile des Landes sind nach wie vor von chronischer Gewalt betroffen. Für Spitäler ist es schwierig, eine kontinuierliche Versorgung mit Wasser, Strom, Medikamenten und Personal zu gewährleisten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Nachweislich verlassen viele Menschen das Land. Infolgedessen müssen im medizinischen und pflegerischen Bereich Nachwuchskräfte Stellen übernehmen, die normalerweise von Personen mit mehr Erfahrung besetzt wären.

Ich habe unter anderem die Aufgabe, Kurse über Notfallmedizin zu geben. Wir veranstalten für das gesamte Personal auch Schulungen über den Umgang mit Patienten und das Verhalten während der Pandemie.

Wir gehören alle zum Team – und die Reinigungskräfte sind ebenso wichtig wie die Mediziner.

Es gibt eine echte Kameradschaft hier und weltweit in unserem Berufsstand. Ich habe früher im St. Thomas Spital in London gearbeitet und fühle mich immer noch als Teil der Familie dort.

Es ist wirklich traurig, wenn man von Kolleginnen und Kollegen hört, die sich bei ihrer Arbeit angesteckt haben und gestorben sind. Wir setzen uns der Gefahr aus, um die Patienten behandeln zu können.

In diesem Internationalen Jahr der Pflegekräfte und Hebammen möchte ich die Arbeit all meiner Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt würdigen.